Wer unsere heutige Medizin nicht so richtig zu schätzen weiß, der möge diesen Kriminalroman lesen: Experimente, die Gänsehaut erregen, eine Medizin, die in Vielem noch nicht einmal in den Kinderschuhen steckt. Garniert mit Mord und Gift. Rundherum eine geheimnisvolle Geschichte aus alten Zeiten, die BARBARA WEGMANN gelesen hat.
»Wir wissen jetzt, dass die Inhalation gewisser chemischer Verbindungen zu zeitweiliger Bewusstlosigkeit führen kann, also dürften wir auch durch weitere Experimente etwas Besseres finden als Äther.« Vom Chloroform ist man nur noch einen Schritt und einige spektakuläre Versuche entfernt. Beseelt von Forschung und Gynäkologe aus Leidenschaft, das ist Dr. Simpson, Arzt mit bestem Ruf und Namen, im düsteren Edinburgh des 19. Jahrhunderts.
»Das war Edinburgh: öffentlicher Anstand und heimliche Sünde, Stadt Tausender Doppelleben.« Einen neuen Assistenten hat Simpson gerade bei sich aufgenommen, Will Raven. Dessen Freundin, die Dirne Evie, wurde ermordet, eines von mehreren Opfern. Brutale Verbrechen, die die Stadt erschüttern. Merkwürdig entstellt sind die Leichen, vergiftet, wie sich herausstellen wird. »Bloß wieder eine tote Hure«, sagt die Polizei, »Hat sich wohl totgesoffen, wie es aussieht.«
Aus dem Fall entwickelt sich eine Mordserie und »mit Mord davonzukommen ist eine recht einfache Angelegenheit, besonders, wenn die Opfer als bedeutungslos gelten.« Es ist die Zeit, in der ein Menschenleben nicht allzu viel zählt, die Zeit, in der der gesellschaftliche Stand über Krankheit und Gesundheit, über Tod und Leben entscheiden kann. »An unglücklichen Frauen und ihren verzweifelten Ehemännern lässt sich viel Geld verdienen.«
In dieser richtig gelungenen und lebendigen Kulisse, in dieser oft gefährlichen und unheilvollen Atmosphäre, in dieser ewig nebligen Stadt voller Gegensätze spielt die nicht unspannende Krimigeschichte des Autorenduos Ambrose Parry. Ja, es sind zwei: Christopher Brookmyre, Journalist und Autor diverser Bestseller und Marisa Haetzman, Medizinhistorikerin. Und wie das Leben so spielt: Ihre Forschungsarbeit zur modernen Anästhesie inspirierte das Paar zu seinem ersten gemeinsamen Roman.
So sind es eigentlich mindestens zwei Handlungsfäden, die den Roman bestimmen und auf 464 Seiten vorantreiben: Verbrechen und Mord einerseits, Versuche und medizinisch zweifelhafte Methoden andererseits. Dunkle Machenschaften sind es allemal. Und die »Grenze zwischen Heilkunde und Kurpfuscherei« ist nicht immer gegeben.
Als wären brutale Morde und spektakuläre Medizin-Forschung nicht genug, es gibt auch noch die Geschichte von Sarah, dem klugen, neugierigen und lernbegierigen Hausmädchen. Gemeinsam mit Raven will sie den Hintergrund der Morde aufklären, und: ja, na klar, eine etwas hilflose Liebesgeschichte wird auch eingeflochten.
Fazit: Vielleicht ist es einfach zu viel, was das Autorenduo in den Roman packen wollte, weniger wäre bestimmt mehr gewesen. So weiß man oft nicht, ist es eine sicher spannende und lebendige Beschreibung medizinischer und hygienischer Verhältnisse im Edinburgh Mitte des 19. Jahrhunderts, ist es ein Thriller aus dem Dirnen-Milieu, Giftmorde, samt einem Serientäter, oder ist es die Geschichte von Raven und Sarah. Es ist von allem etwas, aber, wie gesagt, weniger wäre mehr gewesen.
Am überzeugendsten und sicher spannendsten ist der medizinische Handlungsfaden, die intensive Suche nach einem wirksameren Betäubungsmittel, die abenteuerlichen Versuche, die gruseligen medizinischen Verhältnisse der damaligen Zeit, insbesondere im Bereich der Geburtshilfe. Häusliche Verhältnisse, die Stellung der Frau, die Hilflosigkeit bei Krankheit werden wach, es sind unsichere Zeiten. Eine Zeit, in der »der einzige Unterschied zwischen Medizin und Gift die Dosierung ist.« Trotz mancher Längen flott zu lesen, und: Wer weiß, vielleicht wird der nächste Thriller von Ambrose Parry runder und straffer, denn Die Tinktur des Todes ist nur der Auftakt zu einer geplanten Reihe. Man darf gespannt sein.
Titelangaben
Ambrose Parry: Die Tinktur des Todes
Übersetzung von Hannes Meyer
Zürich: Pendo 2020
464 Seiten, 16,99 Euro
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