Übergänge

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Krähe

Wir dürfen die Übergänge nicht geringschätzen, Krähe, keineswegs. Ich weiß nicht, wie es dir geht mit Übergängen, zum Beispiel wenn du aufwachst, reibst du dir die Augen und streckst die Beine, bevor du aufstehst? Es ist wichtig, den Übergang in den Tag nicht zu verpassen, du mußt den treffenden Zeitpunkt erwischen, sonst wird das wird nicht dein Tag werden.

Nein, man kann es nicht vorweg festschreiben, das ist es ja. Was heute gutging, kann morgen ein Desaster sein, jedenfalls kann ich das von mir sagen. Ich muss das lernen und kann trotzdem nicht behaupten, daß es ein Selbstgänger würde, es ist jeden Morgen dasselbe, und oft genug ist es ein Elend.

Ich glaube, das verstehst du nicht, Krähe. Du hast keinen Zugang zu diesem Problem. Du wirst wach und schon fliegst du los, oder? Daß du einmal vor Sonnenaufgang wach wirst? Nein, du liegst nicht im Nest und drehst dich noch einmal auf die Seite, um zu dösen oder deinen Tag zu ordnen oder bloß einem Traum nachzuhängen.

Bei mir kommt es durchaus vor, daß ich den Übergang bis an den Frühstückstisch verschleppe, ich hab‘ dann bereits Zähne geputzt, geduscht, paar Dehnungsübungen, hab‘ ich alles hinter mir, und der Übergang zieht sich in die Länge. Das geht gut, und ich wundere mich selbst. Als hielte ich mich in einer Zwischenwelt auf, verstehst du, der Tag ist nicht eingetroffen, er ist einfach noch nicht da, doch die Nacht ist abgestreift. Nein, nicht daß ich müde wäre.

Am Wochenende kann es sein, daß ich noch den Schlafanzug trage und in diesem Aufzug am Frühstückstisch Zeitung lese, und der wache Tag zieht erst in die Küche ein, wenn ich Brot schneide und Tee aufgieße, heißen Tee, der mir endgültig die Gegenwart des Tages öffnet, oder ich koche ein Ei.

So verlaufen Übergänge, Krähe, ich könnte dir das ähnlich für den Abend ausmalen, und an diesen Übergängen sollte keine Kleinigkeit schiefgehen, sonst kriegst du es nicht hin, verstehst du. Ähnlich ist es, wenn du eine Treppe hinaufsteigst oder hinunter, auch das ein Übergang. Du darfst den Fuß keinesfalls falsch setzen, sonst geht dir die Balance verloren, du triffst die Stufe nicht und kannst zu Fall kommen, was auf einer Treppe unerfreulich ausgehen kann.

Oder daß du aufs Fahrrad steigst zum Beispiel. Ich bin einmal gestürzt, weil ich das Bein nicht richtig über den Sattel bekam. Mit dem einen Fuß war ich bereits auf die Pedale getreten, und die Pedale war ungünstig positioniert, so kann’s gehen, wenig gibt’s, das wichtiger wäre als Übergänge, der Mensch ist oft nicht achtsam.

Übergänge bei dir, Krähe? Vielleicht wenn du landest, denn da mußt du zielsicher aufsetzen, und der Zweig, auf dem du dich niederläßt, ist dünn und biegsam, und du mußt sicher sein, daß er nicht etwa bricht unter deiner Last.

Das wäre so ein Übergang, verstehst du. Genauso wird es sein, wenn du abhebst, auch da darfst du dir keinen Patzer erlauben, doch ich muß gestehen, ich habe dich nie jemals abstürzen sehen oder während einer Landung straucheln oder gar vom Zweig fallen, wie schaffst du das, dir liegt das im Blut, Krähe, du bist instinktsicher?

Sei froh – bei mir ist das anders, bei mir ist ja schon der Übergang in den Tag wacklig sortiert. Und was der Mensch ›Flugzeug‹ nennt, das kannst du eh vergessen, es benötigt eine kilometerlange Rollbahn, bevor es überhaupt die Räder vom Teer hochbekommt. Kein Vergleich, Krähe. Lächerlich.

Und weil ich das kurz erwähnte: Wie ist das, wenn du einschläfst, Krähe, spürst du die Last des Tages auf deinen Schultern, die Mühsal, oder bist du vielleicht hungrig, knurrt dir der Magen, weil du einfach spät dran warst, der Abend dämmerte, du warst in Eile, da fandest du nicht ausreichend Nahrung und wurdest nicht satt?

Schläfst du dann unruhig, plagt dich eine Erinnerung, bist du ängstlich und fühlst dich im Schlaf gestört, hast du Träume, oder rauscht das alles an dir vorbei? Das würde ich schon gern wissen, Krähe, wie ihr das handhabt, du giltst bei uns als ein intelligentes Geschöpf, und der Mensch weiß so vieles nicht.

Du hast recht, Krähe, die Übergänge sollten ablaufen wie von selbst, ohne daß einer zögert und gar darüber nachdenkt, und wir müssen sorgfältig achtgeben, daß die Abläufe reibungslos bleiben. Bei dir klappt das hervorragend, man muß die Sicherheit bewundern, mit der du dich in der Welt bewegst. Mein morgendlicher Übergang in den Tag ist da vergleichsweise holprig.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

The New Abnormal Is Here To Stay: New Album Reviews

Nächster Artikel

Irrfahrt mit dem Navigator

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Hochgeschwindigkeit

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Hochleistung

Das ist es, sagte Tilman, streckte die Beine lang und saß in diesem Sessel dennoch unbequem, er mußte sich in den nächsten Tagen nach einer verträglichen Sitzgelegenheit umtun, höchste Eisenbahn, weshalb findet sich für die einfachen Dinge stets so mühsam eine Lösung, er rückte ein Stück näher an den Couchtisch.

Farb tat sich einen Löffel Schlagsahne auf.

Annika warf einen Blick nach dem Gohliser Schlößchen.

Zeit, daß wir umdenken, sagte Tilman.

Annika gähnte und wandte sich ihrer Zeitschrift zu.

Wir sind eine Hochleistungsgesellschaft, stimmt's?

Das ist nichts Neues, Tilman.

Höchstleistung in allen Bereichen.

Du sagst es.

Zuversicht

TITEL-Textfeld | Wolf  Senff: Zuversicht

Das selbstschlagende Herz?

Nein, nicht, keine Erfindung des Homo sapiens, nein.

Eine Stimme, die spricht und singt?

Auch nicht, nein, hat er nicht erfunden.

Zwei Augen, mit denen man den Blick auf die zehntausend Dinge werfen kann?

Fehlanzeige.

Edens verschlossene Tür

Kurzprosa | Cornelia Schleime: Das Paradies kann warten Cornelia Schleime hat mit ›Das Paradies kann warten‹ ihren ersten Erzählband veröffentlicht. Als wunderbare Künstlerin ist sie schon lange bekannt, so schmücken ihre zarten, ätherischen und doch oft verletzend direkten Bilder auch die Erzählungen. In einer Mischung aus entrückter Verträumtheit und Bauarbeiterjargon schreibt sie vom Reisen, Kopulieren, Verlieren und Selbstfinden. VIOLA STOCKER ging ein Stück mit ihr.

Dämmerung

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Dämmerung

Ob sie je darauf geachtet hätten, wann die Dämmerung anbreche.

Er mache Witze, sagte London.

Die Sonne gehe unter?, spottete Pirelli.

Kann nicht wahr sein, sagte Rostock.

Sut lächelte.

Thimbleman reckte die Arme.

Eldin fühlte nach seinem schmerzenden Schultergelenk.

Wann sie endlich wieder die Schaluppen zu Wasser brächten, wollte Harmat wissen.

Rückzug

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Rückzug

Florida aufgeben? Ehrlich – wie stellen wir uns das vor?

Farb lachte. Das sei alternativlos, widersprach er.

Das stiehlt mir die letzte Zuversicht, stöhnte Wette.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Schlagsahne.

Annika warf einen Blick nach dem Gohliser Schlößchen.

Wette schwieg. Er hätte große Lust, Doppelkopf zu spielen, sagte er, niemand könne sich pausenlos den Problemen der Welt aussetzen, wo werde das hinführen.