Grauenvoll schwierige Frau

Roman | Elizabeth Strout: Die langen Abende

Sie ist wieder da, die pensionierte, stets grantelnde Mathematiklehrerin Olive Kitteridge aus Elizabeth Strouts Erfolgsroman ›Mit Blick aufs Meer‹, für den sie 2009 den Pulitzer-Preis erhalten hat. Sie ist älter und unförmiger geworden, ihr Mann ist gestorben und irgendwie scheint es vielen Menschen im fiktiven Städtchen Crosby im US-Bundesstaat Maine nicht besonders gut zu gehen. Von PETER MOHR

Die langen Abende von Elizabeth StroutUm Olive herum hat die 64-jährige Autorin Elizabeth Strout einen zehn Jahre umfassenden erzählerischen Bogen mit vielen, höchst unterschiedlichen Figuren gespannt. Ihre Lebensläufe haben auf dem ersten Blick nichts miteinander zu tun, aber Strout hat sie mit »unsichtbaren Fäden« wie ein Spinnennetz locker verknüpft.

Da ist ein Ehepaar, das sich auseinandergelebt hat und die Wohnung mit Klebeband zweigeteilt hat, die junge Kayley, die sich zu Liebesdiensten beim dementen Ehemann einer von Kitteridges Kolleginnen aufmacht, die krebskranke Cindy, es kommt zu einem Wiedersehen mit einer ehemaligen Schülerin, die als Schriftstellerin reüssierte und in deren Werk sich Olive später als »eine einsame und verängstigte Frau« wiederfindet, und es tritt auch noch die tief erschütterte Rechtsanwältin Suzanne auf, die mit 30 Jahren Verspätung von einem sexuellen Missbrauch in der eigenen Familie erfährt.

Die Kleinstadt Crosby ist alles andere als ein Paradies und wirkt wie ein Tummelplatz der Verlierer. Lebenslügen, Enttäuschungen, geplatzte Träume und Angst vor dem Alleinsein dominieren den Alltag, und darin sind sich alt und jung sehr ähnlich.

Elizabeth Strout, die schon für ihren 1998 erschienenen Erstling ›Amy und Isabelle‹ preisgekrönt wurde und die später auch viele Jahre als Dozentin für kreatives Schreiben tätig war, besticht in ihrem jüngsten Roman durch subtile Beobachtungen und detailverliebte Beschreibungen der Gebrechen und Marotten ihres Handlungspersonals. Aber dies alles geschieht mit Respekt und vornehmer Zurückhaltung. Keine der vielen Figuren wird der Lächerlichkeit preisgegeben.

Die zweite tragende Figur dieses verschachtelten Erzählmosaiks ist der 74-jährige, frühere Harvard-Professor und Sportwagenfahrer Jack Kennison. Autorin Elizabeth Strout lässt Olive und Jack zusammenziehen und heiraten. Jack hat gerade eine Prostata-Operation hinter sich, deren Folgen er ebenso hartnäckig wie erfolglos mit einer gefährlichen Tagesration Whiskey zu bekämpfen versucht, als er Olive gesteht: »Du bist so eine grauenvoll schwierige Frau, aber verflixt und zugenäht, ich liebe dich.«

Zu den schwächeren Passagen zählt die Szene mit Olives Herzinfarkt,  weil es hier ziemlich stark nach effektvoller Inszenierung riecht. Sie sackt in ihrem Auto vor dem Friseursalon zusammen, kippt nach vorn aufs Lenkrad, und die Hupe ertönt. Sie wird gerettet und stellt sich die Frage: »Wer in aller Welt bin ich selbst?« Vielleicht ist Olive etwas sanfter, etwas umgänglicher und weniger herablassend geworden. Altersmilde trifft ihre neue Gemütsverfassung wohl am präzisesten.

Bei allen Enttäuschungen und Abstürzen, die dieser raffiniert-dezent verfasste Roman uns präsentiert, bleibt am Ende doch die fast tröstliche Botschaft: Allem Leid und allen Gebrechen zum Trotz, für das Verlieben gibt es weder rationale Regeln noch Altersgrenzen. Und das hat uns Elizabeth Strout auf wundervoll luzide Weise dargelegt.

| PETER MOHR

Titelangaben
Elizabeth Strout: Die langen Abende
Aus dem Amerikanischen von Sabine Roth
München: Luchterhand 2020
349 Seiten, 20.- Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

1 Comment

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Freundin Erde als braunes Mädchen

Nächster Artikel

Haben oder Nichthaben

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Nicht alles hat einen Grund

Roman | Peter Stamm: Weit übers Land Heute noch ein intaktes Familienleben mit geerbtem Häuschen in der Schweiz und Sommerurlaub in Spanien – doch am nächsten Tag schon der Bruch. Der Ehemann und Vater Thomas verschwindet spurlos und ohne Grund. Peter Stamms neuer Roman Weit übers Land beginnt vermeintlich harmlos und wirft doch die ganz existentiellen Fragen auf, zeigt die Ungewissheiten des Lebens und der Liebe. Von INGEBORG JAISER

Unter falscher Flagge

Roman | Horst Eckert: Im Namen der Lüge
Den Düsseldorfer Hauptkommissar Vincent Veih kennen die Leser hierzulande bereits aus drei Romanen Horst Eckerts. Nun, in Im Namen der Lüge, tritt mit Melia Khalid eine junge Frau an dessen Seite, die mit ihrem Team für den Staatsschutz in NRW die linke Szene beobachtet. Als ein scheinbar von der RAF lanciertes Papier darauf hindeutet, dass in naher Zukunft mit Anschlägen einer neuen linksautonomen Stadtguerilla zu rechnen ist, wird Melia aktiv. Aber übersieht sie dabei nicht, dass die Gefahr, die vom anderen Rand des politischen Spektrums ausgeht, noch viel größer ist? Und kann sie sich mit dem Mordermittler Veih zusammentun, obwohl es am Anfang zwischen ihnen alles andere als reibungslos zu laufen scheint und der Mann, was den Inlandsgeheimdienst betrifft, seit seinem letzten Fall mit dem Jenaer NSU-Trio ein gebranntes Kind ist? Von DIETMAR JACOBSEN

Nervöse Anspannung

Roman | Christoph Hein: Guldenberg

Es ist kaum zu leugnen, dass Christoph Hein mit postmoderner Literaturtheorie nichts am Hut hat und ein leicht altmodischer, weil stark moralisierender Erzähler ist. Mit Willenbrock (2000) und Landnahme (2004) hat er präzise und authentische Panoramen der Nachwendegesellschaft vorgelegt. Von PETER MOHR

Wie im Märchen – Rolando in Wonderland

Roman | Rolando Villazón: Amadeus auf dem Fahrrad

»Das Buch ist komplett autobiografisch und zugleich gar nicht autobiografisch«, verrät der sympathische Opernstar und Opernregisseur Rolando Villazón, der Mann mit vielen Talenten. Und so lässt man sich neugierig ein auf die gut 400 Seiten seines dritten Romans, der eines auf jeden Fall ist: eine tiefe Verehrung an Wolfgang Amadeus Mozart, charmant verpackt in eine lesenswerte Geschichte voller Tragik und Komik. BARBARA WEGMANN hat es gelesen.

Menschen im Salon

Roman | Vicky Baum: Pariser Platz 13 Gut achtzig Jahre ist die »Helen-Bross-Methode« jetzt alt, aber wir sind noch immer kein bisschen weiser: Jugendwahn und Alterungsangst sind bis heute verlässliche Profitgeneratoren. Das wird einem schmerzhaft klar beim Lesen von Vicky Baums Komödie Pariser Platz 13, die der kleine, feine Berliner AvivA-Verlag jetzt mitsamt einigen ihrer Artikel und einem klugen Nachwort wieder veröffentlicht hat. Von PIEKE BIERMANN