Jugendbuch | Erna Sassen: Das hier ist kein Tagebuch
Die Selbsttötung eines Familienmitglieds ist unverändert ein gesellschaftliches Tabu, was den Umgang damit enorm schwierig macht. Erwachsene z.B. halten Erschrecken und Schmerz im Zaum, indem sie das Ganze rasch abtun. Jugendliche trifft es mitten in ihrer Schutzlosigkeit. Wenn sie dem Verhalten der Erwachsenen folgen, sind sie verloren, denn sie bekommen keine Zeit zu trauern. Die niederländische Autorin Erna Sassen erzählt davon in ihrem Debütroman ›Das hier ist kein Tagebuch‹. Von MAGALI HEISSLER
Bou ist sechzehn, fünf Jahre sind vergangen, seit seine Mutter sich auf die Eisenbahngleise gestürzt hat. Bou ist ein äußerst empfindsamer Junge, schon als Kind hatte er Probleme im Umgang mit anderen, mit den geltenden Verhaltensregeln, damit, mit dem fundamentalen Leiden der Welt zurechtzukommen. Dass er sehr intelligent ist, macht die Sache nur schwieriger, er sieht genauer, tiefer, ist ebenso schnell betroffen wie gelangweilt. Die Teenagerzeit hat das nicht besser gemacht. Er schlängelt sich mehr durch, als dass er sich durchzuschlägt, obwohl er zuschlagen kann, wenn er in die Enge getrieben wird, verbal wie mit der Faust.
Vor kurzem aber geriet er aus der Bahn, von einem Moment zum anderen. Seither ist er unfähig, etwas zu tun, zu unternehmen, überhaupt sich zu bewegen. Er ist nur müde. Er spricht nicht, isst kaum, treibt in einer dumpfen Dämmerstimmung dahin. Sein Vater macht einen letzten Versuch, ihn zurückzuholen, er stellt ihm ein Ultimatum. Bou hört es sich an und obwohl sich alles wehrt in ihm, gibt es eine ganz leise Stimme, die ihm klarmacht, dass die Bedingungen seines Vaters seine allerletzte Chance für eine Rückkehr ins Leben sind.
Reise in die Finsternis
Dass er ein Tagebuch führen soll, empört Bou. Tagebücher sind für Schwächlinge. Er ist nicht schwach, er ist nur müde. Sassen läst ihren Protagonisten frei reden. Schnell wird klar, dass Bous heftige Beteuerungen, dass es gar nichts zu sagen gäbe, nur Schutzbehauptungen sind. Tatsächlich will er sprechen, über sich, seine verletzten Gefühle, den schrecklichen Tod seiner Mutter. Er kreist das Problem ein, zuerst nähert er sich und dann seinem Umfeld.
Was wie eine liebende Familie aussieht, entpuppt sich im Lauf der Tagebuchseiten als eine kleine Gruppe Menschen, die mit einer Ausnahme nicht begriffen haben, dass sie nie richtig getrauert haben.
Die Selbsttötung der Mutter ist dabei nicht der einzige Grund zur Trauer. Bous Mutter litt an einer bipolaren Störung, lebte zeitweise in psychiatrischen Kliniken, ihre Krankheit belastete die Familie mehr und mehr. Bou begibt sich bei der Erforschung seines Seelenzustands auf eine Reise in die Finsternis, deren Kern das Verhalten der eigenen Familie ist. Sie war tolerant, großzügig, immer gebend. Negative Gefühle wurden versteckt. Sehr selten einmal entluden sie sich, nur um gleich anschließend doppelt so eifrig übertüncht zu werden.
Bou, so muss er selbst feststellen, ist ein ungeheuer wütender Junge. Es ist zu einem guten Teil Zorn, der ihn sprachlos macht, ihm die Energie raubt. Vor allem erschreckt er ihn.
Sassen gelingt es, im Hintergrund von Bous Entwicklung zugleich das Bild einer modernen Gesellschaft zu skizzieren, die Verständnis für alles zeigen möchte, dabei aber übersieht, dass Konflikte ebenfalls zur Sprache gebracht werden müssen und zwar gründlich. Ihr junger Held hat es in mehrfacher Hinsicht schwer. Er muss nicht nur sich helfen, sondern auch den Erwachsenen einen Weg bahnen zur ehrlichen Trauer, mitsamt ihren Ängsten, ihrer Wut, ihrer Abwehr.
Vielschichtig
So kurz gefasst Bous Einträge in sein Heft (darauf besteht er, es ist kein Tagebuch!) sind, so vielschichtig sind sie. Er formuliert seine Gedanken in prägnanten Sätzen, einer, manchmal zwei. Dann folgt im nächsten Absatz der nächste Gedanke. Erst im Lauf der Wochen wird er ausführlicher, gibt Gespräche wieder, wägt ab, urteilt, korrigiert, urteilt erneut. Es sind Lücken in seiner Geschichte, die Leserin muss sie selber füllen. Die Autorin liefert jede Information, die notwendig ist, man muss nur verstehen zu lesen. Die klassische Musik, die Bou als Teil des väterlichen Ultimatums hören muss, gehört wesentlich dazu, zu begreifen, worum es hier geht. Nicht nur die Depression des Protagonisten ist das Thema, sondern auch der Umgang mit der Krankheit der Mutter, ihrem Selbstbild und – sehr mutig – ihrer Entscheidung, sich zu töten.
Ein Lichtblick in dieser recht düsteren Geschichte ist Bous deutlich jüngere Schwester, Fussel gerufen. Sie ist ein ausgeglichenes Kind, für Bou ein Wunderwesen und erstaunlicherweise die einzige, die den Tod der Mutter ohne Trauma hinnimmt. Wie Bou sich um die Erwachsenen kümmern muss, ist es Fussels Aufgabe, sich um Bou zu kümmern. Das ist ein anspruchsvoller und auch ein wenig trauriger Gedanke, der in Jugendbüchern immer häufiger auftaucht, dass nicht die, die das Alter und die Erfahrung haben, Verantwortung übernehmen, sondern die, die eigentlich behütet werden sollen. Er ist nicht der einzige, der bei der Lektüre auftaucht. Die Autorin hat die heutigen Lebensbedingungen von Jugendlichen offenbar klar im Blick.
Nur zum Schluss wird es ein wenig konventionell. Es gab nämlich jemanden in Bous Leben, der ihm viel bedeutete. Natürlich hat er es verdorben, verderben müssen wegen seiner seelischen Verletztheit. Nach der sehr überzeugenden Beschreibung, wie Bou sich wieder aufrappelt, ist der zweite Silberstreifen am Horizont mit seiner leichten Rosafärbung fast enttäuschend. Wer sich anstrengt, wird auch belohnt, heißt es hier plötzlich so brav, wie sonst an keiner Stelle in dieser Geschichte.
Sie ist dennoch gelungen, über weite Strecken sogar ausgezeichnet. Übersetzt ist sie ebenso gut, man hat Bous Stimme förmlich im Ohr und bedauert fast am Ende, dass er nicht mehr weitererzählt.
Titelangaben
Erna Sassen: Das hier ist kein Tagebuch (Dit is geen dagboek, 2010)
Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf
Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben 2015
183 Seiten, 17,90 Euro
Jugendbuch ab 15 Jahren
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