Wenn Doris Dörrie ›Die Welt auf dem Teller‹ serviert, läuft einem förmlich das Wasser im Munde zusammen: bei salzigen Pflaumen aus Japan, einem koreanischen Schweinebraten oder den deftigen Stärkungen einer »Beleuchterbrotzeit«. In kurzen Essays mit knackigem Biss beschert uns die leidenschaftliche Genießerin eine sehr persönliche Reise durch die internationale Koch- und Esskultur, die eher von Hausmannskost als von Haute Cuisine geprägt ist. INGEBORG JAISER ist auf den Geschmack gekommen.
Doris Dörrie hat über 30 Filme gedreht und fast ebenso viele Bücher verfasst, scheint vor Kreativität und Ideenreichtum nur so zu sprühen.
In ihrem letzten Sachbuch ›Leben, schreiben, atmen‹ – gleichermaßen Schreibratgeber wie versteckte Autobiographie – scheinen bereits die Themen durch, die nun ›Die Welt auf dem Teller‹ phantasie- und appetitanregend weiterführt. Schreib über Brot. Schreib über Milch. Schreib über das Essen in Deiner Kindheit.
Vom Kohl zum Kürbiskernöl
In 48 essayistischen Texten breitet uns die Autorin eine Fülle an Leibspeisen und Leckerbissen, kulinarischen Entdeckungen und Küchengeheimnissen, Genussmomenten und gastrosophischen Erlebnissen aus.
Als vielgereiste und stets neugierige Genießerin spannt Doris Dörrie einen weiten Bogen von frühen Erbsenzählereien über lukullische Kindheitstraumata (»Ein Hirn für jedes Kind«) bis zu asiatischer Esskultur (»Japanisches Aspirin«) und den einfachen Freuden einer bayrischen Brezn. Ihre Kolumnen – erstmals zwischen 2016 und 2020 in der Zeitschrift Essen & Trinken erschienen – sind mal amüsante, mal inspirierende Appetithappen, die gleichermaßen zum Nachdenken wie Nachkochen anregen.
Die respektvollen Miniaturen über so einfache Lebensmittel wie Kartoffeln, Hefe oder Kohl kommen Meditationen gleich, lehren Achtsamkeit und auch ein bisschen Demut. Manch versteckte Anregung mag man als Leser am liebsten gleich selbst ausprobieren: wie die Gesichtsmaske aus Seidentofu und Avocado oder ein farbenfrohes Dörrie’sches Traditionsessen mit süßen Erbsen, Grießklößchen und Schinkenstreifen.
Andere Episoden wie »Familiengerichte« kann man sich einfach als urkomische Geschichte auf der Zunge zergehen lassen. Herrlich, wie die sonst aufgeschlossene und weltoffene Autorin gegenüber steirischem Kürbiskernöl fremdelt: »Wahrscheinlich bekommt man damit auch alte Nähmaschinen, Vespas und eingerostete Schlösser wieder in Gang.«
Frag den Thermomix
Oft spiegeln Ess- und Kochkultur auch den Zustand einer Gesellschaft wider. So sehr wir uns in Kalorienzählen, Unverträglichkeiten und obskuren Ernährungsformen verhaspeln, so sehr haben wir auch elementare Handgriffe wie Schnippeln, Schneiden, Kneten, Rühren verlernt. »Wir könnten also unseren Thermomix fragen, was es zu bedeuten hat, wenn wir die Veränderung vom Rohen zum Gekochten nicht mehr selbst erleben, sondern sie an eine Art künstliche Intelligenz abgeben, bis wir alle irgendwann glauben, der Braten entsteht auf digitalem Weg.« Doris Dörrie appelliert an mehr Bewusstsein und Achtsamkeit im Umgang mit unseren Lebensmitteln, denn Essen hat immer auch eine politische Dimension.
Die Inspirationen aus der Küche (so der Untertitel) wurden vom Diogenes Verlag handwerklich meisterhaft umgesetzt: in feines Leinen gebunden und auf hochwertig elegantes Papier gedruckt, mit zitronengelbem Lesebändchen versehen. Schlicht und puristisch wirken die sehr reduzierten Illustrationen des japanischen Grafikers Zenji Funabashi, an Scherenschnitt oder Schablonendruck erinnernd: ein Reigen von blassvioletten Auberginen, die sattgelbe Fülle dreier Spiegeleier.
Passender hätte sich der asiatisch angehauchte Spirit dieses Buches nicht in eine Bildsprache übersetzen lassen. Ein kulturgeschichtlicher, philosophischer und vor allem höchst sinnlicher Lesegenuss!
| INGEBORG JAISER
Titelangaben
Doris Dörrie: Die Welt auf dem Teller: Inspirationen aus der Küche
Mit Illustrationen von Zenji Funabashi
Zürich: Diogenes 2020
203 Seiten, 22,- Euro
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