Schon das Titelbild des gewichtigen Buches erhöht augenblicklich Aufmerksamkeit und Interesse: alte Wrackteile und ein Taucher, der mit Scheinwerfer offenbar auf geheimnisvoller Spurensuche ist. ›Geisterschiffe‹, ein gelungener Titel, der allein schon so spannend ist, dass er die weitere Lektüre des Bildbandes unumgänglich macht – findet BARBARA WEGMANN
Die Ostsee, sie ist so angenehm bekannt durch wunderbares Meer, Strände, Küstenregionen und -Städte, ein Paradies für Segler, ein Tor zur weiten Welt. Ich gestehe allerdings, auch als großer Ostseefan, das hätte ich nie geahnt: Rund 100 000 Wracks alter Schiffe aus allen Zeiten und Jahrhunderten liegen auf dem Grund der Ostsee, so behauptet jedenfalls Carl Douglas, Historiker, Taucher und Fotograf. Zusammen mit dem Unterwasserfotografen Jonas Dahm taucht er ein, tief in die Ostsee, in Geschichte, Abenteuer, in dramatische Schicksale. Sie tauchen ein in eine »historische Schatztruhe«. Und angesichts dieser spektakulären Bilder, die oft über beide Seiten des großformatigen Buches reichen, braucht es nicht vieler Worte. Bilder, die übrigens nur minimal bearbeitet wurden, eine fantastische Sicht, die sich da tief unter der Meeresoberfläche auftut. Vielmehr beschränken sich die zwischengefügten Texte auf die einzelnen, recherchierten Schicksale der Schiffe: Jeder kurze Text erzählt von großen Unglücken, von längst vergangenen Zeiten, von Schiffen, die einst auf Handelsreisen waren oder auch in Kriegszeiten die Ostsee querten und nie dort ankamen, wo sie hin wollten. Und jede Geschichte berührt, ist eine andere, erzählt von dem endgültigen und schrecklichen Moment, wo das »Meer das letzte Wort hat«.
Da weiß man gar nicht, was einen mehr berührt: Sind es die Bilder, die eine so bedrückende Stille wiedergeben, der man sich einfach nicht entziehen kann, Bilder, die oft vermuten lassen, das Unglück habe sich erst vor kurzer Zeit ereignet und nicht schon vor Jahrhunderten. So unversehrt, so »wirklich« erscheinen Schiff und Beiwerk. Oder sind es die Abrisse der Ereignisse, wie kurze Zeitungsmeldungen, fast nüchtern, distanziert, so sachlich, aber informativ und mit vielen spannenden Details zugleich. Schiffsbeschreibungen, technische Angaben, vielleicht die Route, die Koordinaten des Unglücks, das Ziel, das nicht mehr erreicht wurde. Texte, die wie ein letztes Lebenszeichen von einem einst stolzen Schiff wirken. Texte, die die Bilder geschickt und gekonnt in einen Kontext setzen.
Es gebe in der Ostsee so viele Wracks, erzählen die Autoren höchst anschaulich in Wort und Bild, weil »schon seit der Eiszeit viele Menschen im Ostseeraum Seehandel betrieben oder auf Schiffen auswanderten und die See für lange Zeit der beste Weg war, um zu reisen oder Güter zu transportieren.« Kriegerische Auseinandersetzungen der anliegenden Staaten forderten zudem immer wieder furchtbare Schiffsunglücke.
Noch heute erzählen die Wracks davon. Für die Autoren ist es das »Goldene Zeitalter des Wracktauchens.« Und das nicht nur wegen der Funde, die das beglückende Ziel aller Recherche und Vorbereitungen sind. Es ist das immer wieder neue »Klima« unter Wasser, die Stimmung, die Situation, in der Wracks aufgefunden werden. Alle Wracks in diesem Buch, so die Autoren, liegen bis zu einer Tiefe von 110 Metern. »In der Ostsee bleiben die Wracks unversehrt, sodass man gesunkene Schiffe vom Mittelalter bis in die jüngere Vergangenheit finden kann.« Das Wasser ist kalt, es hat einen geringen Salzgehalt und darin fühlt sich die Schiffsbohrmuschel, deren Leibspeise Holz ist, nicht wohl. Gute Bedingungen für die gute Erhaltung von Wracks.
Details der Schiffe werden erläutert, Teile ihrer immer noch erkennbaren Ladung erzeugen Gänsehaut, die Titanic lässt grüßen. „Alle Schiffe tragen etwas mit sich: Güter, Besatzung und manchmal Schätze. Wenn sie von der Meeresoberfläche verschwinden und später wiedergefunden werden, erzählt ihre Ladung einen Teil ihrer Geschichte.“ Die Spurensuche selbst ist oft ein Abenteuer.
Manchmal entdeckt man da auch »flaschenweise Champagner in Holzkisten. »Auf manchen Korken, die lose herumliegen, steht heute noch lesbar ›Roederer‹. Das Haus Champagne Louis Roederer in Reims zählt bis heute zu den großen Namen in der Welt des exklusiven Schaumweins.« Die Lieferung dieses »Champagnerwracks« war für den russischen Zaren bestimmt, »an dessen Hof Champagner zu Kaviar getrunken wurde, und anscheinend passte das extra süße Aroma besonders gut dazu.«
Manchmal aber auch gruselt der Anblick, wie bei all dem, was von der »Mars« mit ihren 122 Kanonen übrig blieb: eines der »größten Kriegsschiffe ihrer Zeit«. Unter der alles bedeckenden Meeresoberfläche ruhen immer noch riesige Berge voller Holzbalken, die nur anhand weniger Details ein Schiff erahnen lassen. Ein gigantischer Trümmerhaufen. 1563 lief die »Mars« vom Stapel, ihr Untergang forderte auch 800 Menschenleben.
Apropos: Bei ihren Tauchgängen treffen die Autoren auch immer wieder auf menschliche Überreste. »Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass die Wracks nicht zu unserem Vergnügen da sind. In vielen Fällen stehen sie für Katastrophen, bei denen Menschen ihr Leben auf schreckliche Weise verloren haben. Deshalb nähern wir uns den Wracks stets mit größtem Respekt.«
Ein wirklich außergewöhnliches Buch, das das Kopfkino gleich mitliefert.
Titelangaben
Geisterschiffe
Eine Reise zu den Wracks der Ostsee
Fotos: Jonas Dahm
Text: Carl Douglas
München: Piper Verlag 2022
272 Seiten, 45 Euro
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