Der Hades ist ein phantasievolles, subtiles Konstrukt, eine Welt der Schatten, ein Aufenthaltsort verstorbener Seelen, wo sich dennoch erschütternde Dramen ereignen, in letzten Atemzügen, ein lebensgefährliches Pflaster.
Die Griechen hielten das für real, ja, allen Ernstes, eine schräge Welt aus Gerüchten und Verschwörungszauber, nicht wahr, heute sind wir klüger, gar keine Frage, wir sind Homo Sapiens, der Mars soll besiedelt werden, wir sind überzeugt von der Evolution, Fortschritt flammt auf unseren Bannern.
Selbstverständlich waren jedem Griechen die Flüsse geläufig, die zum Hades führten, und er fürchtete sich vor Kerberos, dem entsetzlichen Hund, der am Eingang postiert war. Die Seelen entrichteten einen Obolus an den Fährmann, den Styx zu überqueren, eine römische Quelle nennt den Acheron, Strom des Jammers, an anderer Stelle erfährt man von Rändern des tiefen Ozeans, daß dort sich aus den Abgründen des Erebos die Seelen ruhmreicher Heroen zeigten, mal ist von Toten die Rede, ein andermal von Seelen, man hätte das gern eindeutig, doch die Dinge sind kompliziert.
Wer die Lethe überquere, heißt es, vergesse seine Leiden, seinen Sorgen sei ein Ende gesetzt – im Hades, so sind wir geneigt zu lesen, regiert Demenz. Wer das zu vermeiden wußte, trank, so heißt es, aus der rechtsseitig fließenden Mnemosyne, dem »Gedächtnis«. Folglich gab es einen Ausweg, ein Entkommen? Überquerten die Seelen die erwähnten Flüsse, und gab es einen weiteren? Wer endete im Erebos, wer im Hades? Der Tartaros wäre eine zusätzliche Region des Hades, ein Straflager extrem tief unter dem Erdboden, ein Abu Ghuraib, auf der Rückseite der Erdscheibe gar?
Styx heißt eine Göttin und ebenso der Fluß, welcher, so wird an anderer Stelle erzählt, die Unterwelt neunmal umfließe und sie zusammenhalte, daß man sich fragt, wie der Fährmann sich in dieser Wirrnis zurechtfand, es bleibt ein Rätsel.
Der Hades, heißt es, sei eine weitläufige Halle gewesen, eine Höhle, gar ein gewaltig dimensioniertes Stadion mit jener erwähnten Öffnung zu einer Grube am Okeanos, in die stärkendes Blut von Tieropfern geflossen sei, und heldenhafte Seelen, denen es gelungen sei, aus den Tiefen vorzudringen, hätten erneut Kraft geschöpft an dieser Zone des Übergangs, ein, mit Verlaub, Wellnessbereich, ein Reha-Aufenthalt.
Hades war ebenso der Name des herrschenden Gottes, des Fürsten der Finsternis, eines Bruders des Zeus und Sohnes des Kronos. Da Letzterem prophezeit war, er werde durch einen seiner drei Söhne zu Tode kommen, ergriff er den Hades unmittelbar nach dessen Geburt und schleuderte ihn bis hinab in den Tartaros, den Poseidon bis in die schwärzesten Tiefen des Meeres, und davon, wie Zeus gerettet wurde, erzählen diverse andere Geschichten, die Dinge sind verwirrend, ambiguitätstolerant.
Ach, die Namen! Es herrschten eben andere Zeiten, für griechische Götter sind diverse Namen überliefert, sie treten in vielerlei Rollen auf, und Persephone, um die es kurz gehen wird, ist in anderen Zusammenhängen unter anderen Namen bekannt, jedoch in ihrer Beziehung zu Hades vornehmlich als Persephone.
Aber! Welch intrigantes Götterpack! Die Mutter Demeter, eine Schwester des Zeus, wird hintergangen, der große Zeus gar tritt als schurkischer Mitwisser auf, ein übler Strippenzieher inmitten einer verkehrten Welt, und Hades entführt seine Nichte Persephone – seine Nichte!, mittels eines bühnenreifen Auftritts, man stelle sich das vor: Unter einer betörend duftenden Blüte tut sich unversehens ein Abgrund auf, aus dem der Herr der Unterwelt auf einem von unsterblichen Rossen gezogenen goldenen Wagen erscheint, das widerstrebende Mädchen ergreift, den Rossen die Peitsche gibt und augenblicklich zu seinem unterirdischen Palast davonjagt. Schnell wie der Blitz. Kindesentführung.
Die ahnungslose Mutter ist verzweifelt, irrt jahrelang umher, erschütternde Versionen ihrer Leidensgeschichte sind überliefert, und sie setzt schließlich wutentbrannt das Ultimatum: die Erde werde nicht eher Frucht tragen, als daß sie ihre Tochter wiedergesehen.
Die Lage ist verfahren, hammerhart, sie scheint ausweglos, eine Sackgasse, der Karren steckt tief im Dreck, wie war das möglich, und auf Geheiß von Zeus vermittelt nunmehr Hermes, der auch in anderen Erzählungen als Bote der Götter auftritt, und Persephone, darauf einigt man sich, werde sich in Zukunft ein Drittel des Jahres in der Unterwelt aufhalten, die Parteien finden zueinander, wenngleich sie nicht versöhnt sind – welch eitles, machtbesessenes Universum, heftige Geschichten, sensationell, ein unerquicklicher Konflikt findet einvernehmlich zum Ende.
Dennoch bleiben Fragen offen, wichtige Fragen. Demeter, Schwester des Zeus, erfährt frühzeitig von der intriganten Rolle des Bruders, doch stellt ihn nicht zur Rede? Sind Informationen unter Verschluß? Verschollen?
Und Persephone? Sie hätte sich stolz in ihre Rolle gefügt? Ist sie respektiert? Was wir brennend gern erführen, bleibt unbeantwortet, auch das eigentlich Spannende, auf welche Weise der Streit beigelegt wird. Gibt es ein Machtwort? Wer schlägt mit der Faust auf den Tisch?
Bei Demeter handelt es sich allem Anschein nach um eine energische Frau, bei Zeus und Hades um mit allen Wassern gewaschene Übeltäter, skrupelloser Herrscher der eine wie der andere, sie schrecken vor nichts zurück.
Wie hoch kochen die Emotionen? Entpuppt sich Hades als liebevoller Gatte, werden Konflikte unter den Teppich gekehrt? Die Erzählung scheint, wo sie verstummt, erst einzusetzen. Wie tritt Persephone auf? Eine Moderatorin im Dschungelcamp? Jurorin bei Dieter Bohlen? Eitelkeit, Scheinwerferlicht?
Sie habe sich nach ihrer Mutter gesehnt, mehr erfahren wir nicht, das mag fürstliche Etikette sein und wenig zufriedenstellend, aber so sind sie, die überlieferten Episoden: umwerfend handlungsintensiv, im Detail eher nachlässig.
| WOLF SENFF
| Abbildung: Fahrt über den Styx, Holzstich von Gustave Doré (1861) | Proserpina von Dante Gabriel Rossetti (1874).