Das Britzeln der Synapsen

Roman | Joachim Meyerhoff: Hamster im hinteren Stromgebiet

Mit seinem mehrteiligen autobiographischen Zyklus Alle Toten fliegen hoch brillierte der doppelbegabte Joachim Meyerhoff sowohl erzählerisch wie schauspielerisch. Sein neuester Band Hamster im hinteren Stromgebiet zeigt, wie schnell sich mit einem Schlag das Blatt wenden kann. Oder, in typischem Meyerhoff-Tonfall: »Von der Rampensau zum sterbenden Schwan war es nur ein Katzensprung«. Von INGEBORG JAISER

Hamster im hinteren StromgebietWas kann einen Menschen noch erschüttern, der auf dem Gelände einer psychiatrischen Anstalt aufgewachsen ist, früh seinen Bruder und seinen Vater verloren hat, gleich mehrfach zum Schauspieler des Jahres gekürt, mit unzähligen Literaturpreisen geehrt und auch noch als deutsche Antwort auf Karl Ove Knausgård gehandelt wird? Bekannt als Burgtheater-Rampensau, als blonde Bombe mit Selbstdetonationspotential, erscheint Meyerhoff allzeit kraftvoll und unverwundbar.

Doch im Alter von 51 Jahren streckt ihn ein unerwarteter Vorfall nieder, der fast das Ende seiner Karriere bedeutet – dann aber einen neuen Band seiner Lebenssaga hervorbringt und davon berichtet, »wie es ist, wenn die Selbstverständlichkeit der Existenz von einem Moment auf den anderen abhandenkommt.«

Zeit ist Hirn

Was ist geschehen? Während Meyerhoff mit seiner Tochter an einer Hausarbeit schreibt, bricht ein urplötzliches sensorisches Gewitter über ihn herein: gleißendes Licht und flirrende Luftspiegelungen, motorischer Kontrollverlust und eine enorme Übelkeit. Schnell wird ein Krankenwagen gerufen (in Österreich verheißungsvoll »die Rettung« genannt), der den Patienten nach einer wahrlich abstrusen Odyssee in eine abseitige Klinik der Wiener Peripherie befördert.

So wort- und bildgewaltig, mit psychedelischem Furor hat vermutlich selten ein Betroffener seine Missempfindungen und Ausfallerscheinungen geschildert: »In den Wänden […] begannen Partikel zu zucken, zappelnde Einzeller aus Licht teilten und vermehrten sich und wuselten herum wie Mikroorganismen unter dem Mikroskop«, dann »ein heftiger Stromschlag, der die Glieder meiner Finger wie frisch geköpfte Aale zucken ließ.«

Albtraumhafte Schicksalsgemeinschaft

Die Diagnose: ein »Schlagerl«, wie der Österreicher zu sagen pflegt. Das klingt ziemlich abtörnend nach Pflegestufe und Sabber in den Mundwinkeln, nach dem Unglücksszenarium schlechthin für einen Schauspieler, »wie Pianistenfinger in der Kreissäge, Hörsturz bei Piloten, Achillessehnenriss bei Tänzern.« Mutig stemmt sich Meyerhoff gegen den drohenden Erinnerungsverlust (mit detailgenauen Gedächtnisreisen und dem Memorieren von Theatertexten) und motorische Entmündigung (die notwendige Hilfestellung beim Toilettengang katapultiert ihn unversehens »vom Selbstschüttler zum Abgetupften in nur einer Nacht«).

Das alles inmitten des skurrilen Panoptikums der Stroke Unit, bevölkert von moribunden Leidensgenossen, die Meyerhoff treffend als „ungarischen Kugelblitz“ oder »Wiener Altstrizzi« klassifiziert. Eine albtraumhafte Schicksalsgemeinschaft: »Wir waren zu sechst […] Männer und Frauen gemischt. Ab einer gewissen Drastik wurde das Geschlecht offenbar zweitrangig«. Dass die einzelnen Kabinette durch Vorhänge abgetrennt sind, verleiht der Feldlazarett-Szenerie fast schon vertraute Theateratmosphäre.

Der neuntägige Klinikaufenthalt lehrt den prominenten Patienten tiefe Demut, den Einsatz von Rollatoren als Streitwagen – und wie man aus dem Kompensieren von Defiziten wieder Kunst machen kann. Wortwitz, wilde Assoziationen und wahnsinnige Vergleiche offenbaren erneut Meyerhoffs überbordende Lust am Erzählen. Wer sonst würde sich beim Aufpumpen der Blutdruckmanschette an den Beginn des Pippi-Langstrumpf-Liedes erinnert fühlen? Eine mitreißende Tragikomödie, bei der Horror und Humor, Selbstironie und Schrecken ganz nah beisammen liegen. Nur Hamster dürften sich nicht im hinteren Stromgebiet finden, denn das ist definitiv ein Gehirnareal!

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Joachim Meyerhoff: Hamster im hinteren Stromgebiet
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2020
320 Seiten. 24.- Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Der Natur auf der Spur

Nächster Artikel

Von wegen!

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Vertrauen, Versuchung und Verrat

Roman | Bernhard Schlink: Abschiedsfarben

Bernhard Schlinks Werke zeigen dann ihre bekannte Größe, wenn sie um existenzielle Lebensfragen wie Recht und Gerechtigkeit, Schuld und Sühne kreisen. Auch der neueste Erzählband ›Abschiedsfarben‹ spielt die moralisch-ethischen Kardinalthemen in variantenreichen Spielarten durch, ist jedoch nicht frei von einem larmoyanten Unterton. Von INGEBORG JAISER

Meta! Meta! Meta!

Roman | Paul Murray: Der gute Banker Mit Skippy stirbt (2013 auf Deutsch) hatte Paul Murray eine herzzerreißend komische Variation auf das Genre Internatsroman hingelegt. Jetzt hat er sich das Caper-Novel-Genre, den heiter-leichten bis galgenhumorigen Gaunerroman, vorgeknöpft und das – laut angelsächsischen Kritikern – witzigste Buch über die europäische Finanzkrise geschrieben. Oder über griechische Schulden?  Französische Modephilosophie? Was ist ›Der gute Banker‹ denn nun? Von PIEKE BIERMANN

Die eingebildete Kranke

Roman | Deborah Levy: Heiße Milch Um Fragen der Herkunft und Identität, um Verwandtschaft und Fürsorge kreist Deborah Levys neuer Roman ›Heiße Milch‹. Er ist gleichermaßen Psychogramm, Familienaufstellung und moderne griechische Tragödie – auch wenn Köpfe nur symbolisch rollen und Medusenbisse langsam verblassen. Von INGEBORG JAISER

Vorzimmer zum Sarg

Roman | Frédéric Beigbeder: Endlos leben In Frankreich genießt der Schriftsteller Frédéric Beigbeder seit der Veröffentlichung seines Erfolgsromans »39,90« (2001) über die verlogene Scheinwelt in der Werbeindustrie beinahe den Status eines Popstars. Seitdem darf sich der inzwischen 53-Jährige über eine Dauerpräsenz in den französischen Medien freuen – ob als vermeintlicher Literaturexperte, als zynischer Kolumnist und provozierender Talkshow-Moderator oder eben als narzistischer Star-Autor. Beigbeder mag die effektvollen Selbstinszenierungen. Von PETER MOHR

Von Schmerz zu Schmerz

Roman | Haruki Murakami: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki – der neue Roman von Haruki Murakami, der pünktlich zum 65. Geburtstag des Schriftstellers am 12. Januar erschienen ist. Von PETER MOHR