Halbseidene Etablissements, Morphium- und Kokainexzesse, Affären mit beiden Geschlechtern – das war die Welt der Tänzerin Anita Berber. Der Autor Steffen Schroeder lässt in der ausschweifenden Romanbiographie Der ewige Tanz ihr selbstzerstörerisches Leben zwischen Ekstase, Euphorie und Eigensinn wieder aufscheinen. Von INGEBORG JAISER
Das von Otto Dix geschaffene Bildnis fasziniert noch 100 Jahre nach seiner Entstehung die Besucher des Stuttgarter Kunstmuseums. Grellweiß geschminkt, mit schwarz getuschten Augenlidern und lasziv-verächtlichem Seitenblick, rafft Anita Berber mit krallenartig gespreizten Fingern ein hautenges Kleid zusammen, das mehr preisgibt, als dass es verhüllt.
Die lodernden Rotschattierungen des Gemäldes scheinen den dargestellten Körper fast zu zerfressen. Schmeichelhaft ist dieses Abbild nicht. Und drei Jahre nach der Vollendung des Werkes ist Anita Berber auch schon tot, viel zu früh verglüht nach einem exzessiven Leben immer am Rande des Abgrunds.
Femme fatale und Stilikone
Doch wer war diese Anita Berber? Aufsehenerregende Ausdruckstänzerin und Stummfilmschauspielerin, laszive Femme fatale und Model – oder, um es mit heutigen Worten zu sagen: Influencerin, It-Girl, Stilikone und Trendsetterin. Hemmungslos, exaltiert, alle Tabus brechend. Ein skandalumwitterter Star der Weimarer Republik, der Rausch und Sex in jeglicher Spielart verfallen war. Keine dreißig Jahre ist sie geworden.
Ihr selbstvernichtendes Leben zeichnet Steffen Schroeder nun ausdrucksstark und lebendig in seinem biographischen Roman Der ewige Tanz nach. Wie in einer losen Abfolge von Filmszenen, mal duftig hingehaucht, mal flatterhaft nervös. Doch immer von überraschender Detailfülle und Bilderreichtum geprägt. Den eines war Anita Berber gewiss: Anders als die Anderen, um mit einem ihrer Filmtitel zu sprechen.
Galoppierende Schwindsucht
Drei Ehemänner hat die Berber verschlissen und zwischendrin keine Frauen-Liebschaft verschmäht (»Sie sei eine Invertierte, schrie Eberhard, eine Bienenkönigin«), keinen Skandal vermieden. Ihrem Beuteschema erlagen der schwule Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld genauso wie Charlotte Berend, die Ehefrau des Malers Lovis Corinth. Ihr selbst kreierter Look mit maßgefertigten Herrenanzügen und Monokel avancierten zum Markenzeichen und wurde sogar von Marlene Dietrich offen kopiert. Darbietungen mit provozierenden Titeln wie die Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase pushten die Erregung des Volkes in die Höhe.
Doch der ständige Tanz auf dem Vulkan erforderte immer gewaltigere Drogen- und Alkoholexzesse. Ihr gieriger Genuss von in Chloroform getränkten Rosen- und Tulpenblätter stellt selbst heutige kuriose Tiktok-Challenges in den Schatten (dennoch würde man sich als Leser manch allzu ausgeschmückte Szenerie etwas geraffter, gekürzter wünschen). Als Anita Berber auf einer Tournee in Damaskus schließlich zusammenbricht, kann der herbeigerufene Arzt nur noch »galoppierende Lungenschwindsucht« diagnostizieren.
Von Berlin bis Beirut
Wie konnte die literarische Biographie dieses wilden Lebens so treffend in Szene gesetzt werden von dem 1974 in München geborenen Steffen Schroeder, der als Schauspieler (unter anderem in Soko Leipzig, Tatort und Keinohrhasen) und Schriftsteller zu den beneidenswerten Doppelbegabungen seiner Art zählt? Die Danksagungen im Nachwort des Buches zeugen von zahlreichen Recherchen und umfangreicher Sichtung von Quellenmaterial. Nach seinem Überraschungserfolg Mein Sommer mit Anja (2020) hat sich Schroeder bereits in Planck oder als das Licht seine Leichtigkeit verlor (2022) als erfolgreicher Autor historischer Themen erwiesen.
Viele Schauplätze dieser Anita-Berber-Biographie dürfte er durch seine Engagements im Berliner Ensemble oder im Wiener Burgtheater aus eigener Erfahrung kennen. Erstaunlich dennoch, wie er manche stilistischen Details und zeitgenössischen Modeerscheinungen (»ein apartes Mantelkleid aus braunem Samt, der Verschluss mit Silberschnalle, Kragen und Manschetten geziert mit Affenhaar«) bildlich wiedergibt. Durch eine Vielzahl an schillernden Facetten entfaltet sich Der ewige Tanz zum überbordenden Zeitenpanorama der 1920er Jahre, gewürzt mit einem verruchten Hauch von Babylon Berlin.
Titelangaben
Steffen Schroeder: Der ewige Tanz
Hamburg: Rowohlt 2025
304 Seiten. 24 Euro
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