Roman | Peter Handke: Der Große Fall
Autobiographisches vermischt mit Philosophischem, ein Ich, das diffundiert und doch ständig präsent ist in einer Natur, die als Spielwiese für einen Schauspieler dient. – Notizen von HUBERT HOLZMANN zu Peter Handkes Erzählung Der Große Fall.
Peter Handke ist seit jeher ein Grenzgänger: ungeheuer die »unzarte Wut« (Karasek) Handkes bei einer Lesung der Gruppe 47, die im Vorwurf der »Beschreibungsimpotenz« gipfelt, umstritten seine Reisen ins ehemalige Jugoslawien, zum Scheitern bestimmt seine Beziehungen. Peter Handke, ein deutschsprachiger Autor – gefeiert, oft zerrissen –, der nahe Paris lebt. Dort im Großraum Paris ist seine neueste Prosaarbeit angesiedelt. Handke erzählt im Großen Fall ein weiteres Kapitel aus seiner Werkstatt, eine Fortschreibung der Niemansbucht, der linkshändigen Frau, der Stunde da wir nichts voneinander wußten. Eine erneute Spiegelung seiner »Katastrophe des Alleinseins«, so sein Biograph Malte Herwig in der Meister der Dämmerung.
Handke erschafft in seinen Büchern keine neue Welt, es ist die Welt, aus der er kommt, die er bewohnt, bereist – immer eine Art Bühne, auf der er schreibt. Und alles nur Wiederholung? Das wäre nicht verwunderlich, da wie so oft auch der Große Fall nicht zeigt, wie ES WIRKLICH IST, sondern vielleicht zeigt, was MÖGLICH IST (wie schon in seinem frühen Stück Kaspar) – eine Inszenierung des Lebens in der Vorstellung. Im Zentrum der Geschichte steht ein Mann. Er erwacht im Bett einer Frau. Allerdings nicht nach einem One-Night-Stand! Die Frau ist bereits zur Arbeit aufgebrochen und nun will sicher der Mann auf den Weg machen zurück in die Stadt. Allerdings bricht er nicht einfach auf aus dem Haus der Frau, das in einem Vorort am Waldrand – in Chaville? – steht. Er benötigt einen Impuls.
Durchleuchtung der Existenz
Es sind Kleinigkeiten nötig, die zum Auslöser für seinen Aufbruch werden. Für Antrieb sorgt ein plötzlicher cholerischer Ausbruch, die Wut des Mannes – fast wie der »mächtige Donnerschlag« des Beginns der Erzählung, der ihn aufweckt: »Wie fast zu erwarten in solcherart Geschichten, schlug der Tag dann um, und zwar durch einen einzigen Zitronenkern, welcher dem Mann beim Auspressen der Scheibe zu Boden fiel. Als er sich nach dem Kern bückte, glitt der ihm, glatt und glitschig, wie er war, durch die Finger, und dann noch einmal, und noch einmal.«
Diese Unfähigkeit blockiert und lähmt den Mann kurzzeitig, löst dann jedoch eine unglaubliche Reaktion aus. Er löscht alle Spuren seiner Anwesenheit im Haus. Relativiert sich so und seine Existenz in der Welt dieser Frau, betont wiederholt das Unverbindliche seiner Beziehung zu dieser. (Dennoch – und das verwundert nicht: Ihre Liebe zu ihm schmeichelt ihm schon.) Die Wut katapultiert ihn aus seiner gewohnten Bahn und bringt eins nach dem anderen ins Rollen: »Und gerade das brachte ihn auf den Weg, ebenso wie die Entdeckung, daß er irrtümlich zwei verschiedenfarbige Socken, auch unterschiedlich lange, angezogen hatte. Als er sich dann noch einen zu großen, bäurischen Hut mit mottenlöchriger Krempe, eine Falkenfeder hineingesteckt, über den Schädel stülpte, war er endgültig aufbruchsbereit.«
Werkschau im Kleinen
Ist dies ein Held aus mythisch versunkenen Zeiten? Ein nationaler Freiheitsheld? Oder? Ein Schauspieler. Der Große Fall ist als vieldeutige Metapher zu lesen, schillernd wie ein Tautropfen im morgendlichen Licht. Der Weg ins Freie beginnt im Wald, der sogleich Spuren an ihm hinterlässt, ihn zeichnet, in besonders, zur Figur macht: auf seinem weißen Hemd ein »tiefschwarzer Fleck« von Beeren, die Jacke zerrissen von Brombeerdornen, »ronce«.
Die Begegnungen im Wald mit der Zivilisation nimmt der Mann beinahe wie hinter Glas war, immer ist es Distanz, die ihn bestimmt, sind es die Möglichkeiten und Assiziationen, die erzählt und abgewogen werden, immer als Spiel mit und Spiegel von Handkes eigener Biografie. Beispielsweise liest man die Stelle über den 16-jährigen Jungen durchaus als Widmung an Handkes eigenen Sohn. »Der Junge war nie mehr heimgekehrt… Er war geliebt worden, und wie!, von seiner Mutter, oder von wem, aber selbst die Liebe, das Geliebtwerden, das weiterhin Geliebtsein, und wie!, würde ihm nicht mehr aushelfen.«
Der Weg des Schauspielers ist aber kein einfaches autobiografisches Nachschreiten. Dennoch begegnet der Mann auf dem Weg durch den Wald – und zwar vielfach gesplittet – seinem Alter Ego: Der Mann hört hinter sich Schritte, ein Hund, sein Magen, Geher, entfernter Chorgesang. Flimmern und Hinundhergeworfensein. Mal auktorial beschaut, wie aus Adlerperspektive, mal zutiefst im inneren Monolog des Erzählers. »Nur keine Zeichen, keine bösen, aber auch keine guten. ‚Geh. Geh weiter.‘« Ist Natur also für Handke symbolgeladen oder nicht? Die Begegnung mit dem alten Mann, der »im weglosen Wald war als Trauernder, um zu betrauern. Seine Frau war ihm gestorben« wird zur Begegnung mit dem Doppelgänger, auch hier wieder Annäherung an Autobiografie. Aber ohne psychoanalytische Bedeutung.
Eher stilisiert der Mann sich zum Betrachter eines neuen Welttheaters: als »letzter der Menschen«, als »Zwangszuschauer« und »Menschheitsfeind, die Rolle des Amokläufer im Sinn «: »Und für einen Augenblick sah er sich auf den Mächtigen zurennen und ihm ein Messer in den Bauch stoßen.« Es verwundert nicht, dass Handke gerade auf diesem ersten Höhepunkt der Erzählung das dialogische Element betont. Der Schauspieler, seine besondere Bedeutung, seine Autorität wird beschworen.
Handkes Sprache ist zutiefst lyrisch, intim und versinkt dennoch immer wieder in mythisch-religiöse Tiefen, Gedenkräume öffnend, setzt in Beziehung, wägt ab und verwirft dennoch wie so oft. Er formuliert thesenhaft, wirft Begriffe auf, verharrt einen Moment im Nachdenken, um diese Halbsätze nach einem Doppelpunkt wieder zu relativieren, neu zu durchleuchten. Nur kein Festlegen, keine Starrheit. Panta rhei. Immer ein Werden, in Bewegung. Great Falls. »Das Haus, mitsamt dem Bett, wird erzittert und für einen langen Augenblick nachgebebt haben. Augenblick: das traf auf den Liegenden dort nicht zu.«
Ein dicht komponiertes Spiel mit Motiven und Ideen
Zu einem der Höhepunkte wird das »Pfingsterlebnis« des Mannes. Auf seinem Weg in die Stadt betritt er eine kleine Kirche und feiert als einziger Besucher mit einem Priester die still zelebrierte Messe. Handke verklausuliert hier auf besondere Weise Fragen der Existenz. Es gibt immer schon ein Wissen um die Dinge, die geschehen werden, und um deren tiefere Bedeutung. Im Gespräch mit dem Priester lüftet der Mann kurz sein Geheimnis, entdeckt er selbst seine Wesenheit. Wiederum auf der Suche nach Identität, nach seiner Rolle, seiner Person. Handkes Arbeitsweise folgt seinem Grundthema, der ständigen Suche. Das ist im Grunde genommen musikalische Motivarbeit, Schreiben als Variation und Durchführung der Themen. Hier mit Anklänegen an der Christus-Gestalt, am Parzival und einem »Anti-Dorian-Gray«. Auch hier alles im Fluss.
Das Leiden an der Welt, am »Gewicht der Welt«, das ein Christopher zu tragen hat, ist ein anderes Motiv. Bei Handke on the road als einsamer Desperado. Der Mann ist so zerrissen, dass er das Angebot, die Rolle des Amokläufers zu übernehmen, annimmt. Die genaue Aufgabe, das Ziel der Zerstödung ist ungewiss, noch nicht bestimmt. Der Mann ist dem »lonesome cowboy« Handke also sehr nahe. Am Ende des Wegs überquert er den »Highway« der äußeren Grenze der Stadt, er schleicht sich über die périphérique: »Er ging so, wie in einem Film von John Ford ein Indianer … eine Gangart bezeichnete«. Die Szene, in welcher der Mann einer Polizeistreife begegnet, filmt Handke im Stil der Western-8, das Kreisen der Geier über den Duellierenden wird auf dem Schienengelände des Niemandslandes spürbar.
Das Ende ist greifbar: »Es ist aus. Ich lasse alles liegen und stehen. Ich rühre keinen Finger mehr. Ich sage kein einziges Wort mehr. Die schwarze Wolke am Horizont ist über mich gekommen, ich bin sie selber. Der böse Mond ist aufgegangen, ich bin es selber. Bleibt alle weg von mir, jetzt, und in der Stunde meines Todes, welche jetzt ist.« Die Rolle des Retters übernimmt dann in Handkes neuester Erzählung eine Frau – und er stürzt sich hinunter in die innere Stadt, hinein ins Ziel. Es dämmert bereits, als er in der »Bar du Destin« der Frau begegnet, deren Wohnung er am Morgen verlassen hat. Das Ende: unbestimmt. »Der Große Fall«.
Die Erzählung schließt Handke auf artistische Weise: akustisch anfangs der Donner, zum Abschluss das Rauschen der Great Falls. Ein großer kompositorischer Bogen: Die Episode beginnt im Bett einer Frau, die er am Ende des Tages in der Stadt wieder treffen wird. Dazwischen: die Anatomie des Alleinseins. – Eine hochmusikalische Spurensuche.
Titelangaben
Peter Handke: Der Große Fall
Berlin: Suhrkamp 2011
279 Seiten. 24,90 Euro
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