Falsch gefragt

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Falsch gefragt

Die Oortsche Wolke, wie weit sie entfernt ist, oder Alpha Zentauri, wer will das schon wissen, die Forscher messen in Lichtjahren, das Licht, haben sie herausgefunden, verbreite sich mit unerhörter Geschwindigkeit.

Auch nachts?

Auch nachts.

Wie kann das sein?

Sie haben es gemessen.

Ist es nachts denn nicht dunkel? Die Finsternis, mit welcher Geschwindigkeit breitet sich die Finsternis aus? Sie können das nicht messen?

Ich weiß nicht. Ergebnisse liegen nicht vor.

Und? Ist Finsternis identisch mit Schatten? Nicht? Hat sie ihren Ursprung in schwarzen Löchern?

Sollte man annehmen, das liegt nahe, sie forschen noch.

Sie stellen falsche Fragen?

Es wäre an der Zeit, umzudenken.

Wie meinst du das?

Nun, sie sollten sich von Themen abwenden, in denen Ergebnisse durch Zählen und Messen gewonnen werden.

Ich verstehe nicht. Was bleibt dann übrig? Welche Themen sollen das sein?

Zählen, Messen, Rechnen sind harte Vorgänge, gewalttätig, kompromißlos, kalt, unnahbar, präzise, sind Werkzeuge des Maschinenwesens, sie okkupieren ausnahmslos sämtliche Abläufe und lassen keine Räume, um nachzudenken, um zu zweifeln, zu verwerfen.

Ich verstehe noch immer nicht.

Es ist an der Zeit, sich den sanften, den weichen Themen zuwenden, Susanne, es gäbe zahllose Fragen, das Leben betreffend, verstehst du, vor allem nach dessen Herkunft, man müßte fragen, von woher das Leben zurückströmt im Fall eines von schwerer Krankheit genesenden Menschen. Gewiß, sie werden messen und feststellen, daß das Fieber sinkt, und das ist es dann gewesen. Doch die Frage zielt auf das Leben: Gibt es einen Quell, in dem sich Lebensmut sammelt und von dem aus er sich dorthin ergießt, wo er gebraucht wird?

Was redest du, Tilman?

Bei jemandem, der krank ist, Susanne, ist der Lebensraum reduziert, verstehst du, ist verengt, der Kranke ist zurückgezogen in einen Kokon, der ihn dem Leben entrückt, handeln kann er nicht oder es fällt ihm schwer, seine Reichweite ist eingeschränkt, seine Gedanken sind zögerlich, auf ihnen lastet die Erkrankung, und nur im Falle daß er sich erholt, wird die Krankheit weichen.

So ist es.

Wohin aber geht die Krankheit, und vor allem: Von wo kehrt das Leben zurück? Litt der Kranke an Appetitlosigkeit, und nun ißt er wieder – mit der Nahrung strömt das Leben? Oder hatte er Schmerzen, und anderentags sind sie unvermutet vorüber – liegt das am Leben, das sich erneut entfaltet und seine Räume besetzt? Ist das Leben eine subtile Struktur, ein mächtiger Regent? Und was ist denn das, ein Heilungsprozeß, eine Genesung, und wie erklären wir das? Nein, nicht messen, das wäre für die Sprachbastler, die infantilen Gemüter, sondern erklären, Susanne.

Aus welchen Gründen fällt der Schmerz den Menschen an, aus welchen Gründen weicht er? Ist er müde geworden, langweilt er sich, fühlt er sich einsam, schläft er ein, hat er Heimweh, ist er enttäuscht, steckt er auf, ist er eingeschnappt, daß er davonrennt? Hat man ihn beleidigt? Kann auch der Schmerz einen Schmerz empfinden? Hat der Schmerz eine verletzliche Seele? Gefällt er sich als Misanthrop, verbittert, als ein rachsüchtiger Geist, ein Dämon?

Wir wissen das nicht, Tilman.

Möglich, oder?

Kann gut sein. Wir wissen das nicht.

Das Leben wäre eine besondere Nahrung, die ständig wieder geerntet wird, damit die Speicher gefüllt bleiben? Wo wächst es, wie wird es gepflegt, wann wird es geerntet, von wem?

Wir wissen das nicht, Tilman, sagte Susanne, hielt ihre Tasse in der Hand und blickte nachdenklich auf den zierlichen lindgrünen Drachen, sie war sehr angetan. Was ihr weniger gefiel, war die gegabelte obere Verankerung des Henkels, die war überflüssig, ein Stilbruch, es gäbe harmonischer geformte Tassen, sie erinnerte sich an Mon Ami von Roerstrand, und die Gabelung manieriert zu nennen, das wäre nicht verkehrt, oder einen Anflug von Kitsch, doch letztlich bliebe das hinnehmbar, denn was wäre ohne Fehl und Tadel, ein geringfügiger Makel kann seinen eigenen Charme entfalten, sie schenkte Tee nach.

Ist, was wir Leben nennen, eine faszinierende, aber empfindliche Blüte von nie zuvor gesehener Schönheit? Sie wäre aus regelmäßigen Rhythmen geboren, ihre Wehen eine ewige magische Melodie, sie wüchse auf natürlichen Abläufen heran, gebettet in eine wunderbare Vielfalt von Geschöpfen, jedoch würden die über Jahrmillionen entstandenen Grundlagen durch verheerende Katastrophen und durch den Kollaps des Klimas zunichte gemacht? Was wir Lebende als Leben kennen, zöge sich zurück?

Es ist gut, Tilman, ich weiß, beschied ihn Susanne, sie wollte nicht davon hören, genug, sie setzte sich Kopfhörer auf.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Endlos weit und tief

Nächster Artikel

Biographie mit Brüchen

Weitere Artikel der Kategorie »TITEL-Textfeld«

Kein Ausweg

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Kein Ausweg Auf Dauer fällt es schwer, ihm zuzuhören, findest du nicht, Thimbleman? Schon, ja. Auch wenn er ja recht hat. Daß er nur Katastrophen heraufbeschwört, kannst du aber auch nicht behaupten, Ausguck. Nein, nicht. Und wenn es nun einmal so ist – was kann man tun?

Vier Gedichte

Textfeld | Ingrid Glienke: Vier Gedichte AQUANAUTEN straßen kanäle nach norden geöffnet schnee stiebt in feinen kristallen leuchtet auf in lichthöfen glitzernde fischschwärme im strom auf kommando der windböen drehen ins waagerechte gehen auf fühlung trommeln eisschuppen ins gesicht frostflössel vor die wimpern zwischen uns treiben hände lederhäutige unterwassergewächse

Irrläufer

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Irrläufer

Der Mensch wäre geschaffen, die Ordnung der Natur zu wahren, welch irreführender Gedanke, er wäre gar ein Wächter über ihre Vielfalt, seine Aufgabe läge darin, in ihre Abläufe einzugreifen, und er wäre ausersehen, sich ihrer Schätze zu bedienen, welch vermessene These, meine Güte, aber so ist er, eitel und selbstgefällig, sieh ihn dir doch an, er sei, sagt er, Schlußpunkt eines Prozesses, den er Evolution nennt, er habe das wissenschaftlich bewiesen, sagt er, und was meinst du, Susanne, kommt dabei heraus – er heftet sich das Etikett ›Homo Sapiens‹ an, er hat sich das in den Kopf gesetzt, da kennt er nichts, und auf den Trümmern der Industriegesellschaft inszeniert er sich als die Krone der Schöpfung.

Grabräuber

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Grabräuber

Die Ordnung, sagte er, ist brüchig, blickte nachdenklich ins Feuer und fragte sich, ob eine Wirklichkeit ohne Makel, ohne Verletzung überhaupt möglich wäre und ob nicht jede Ordnung brüchig sei und nach bestem Wissen gepflegt werden müsse. Allein daß meine Abstammung umstritten ist, fragte er, wie könne das sein.

Crockeye sah ihn ratlos an, nein, er konnte dem nicht folgen.

Der Ausguck fühlte sich überfordert und überlegte, aufzustehen und einen Salto zu schlagen.

Eldin faßte sich an die Schulter, der Schmerz ließ Tag um Tag nach.

Rückbau

Textfeld | Wolf Senff: Rückbau Der Leitgedanke der neuen Zeit, sagt Gramner, werde Rückbau sein, die industrielle Zivilisation sei gescheitert, sagte Thimbleman, definitiv, sagte er, Rückbau werde zum Namen der neuen Epoche, er setzte sich aufrecht. Du warst zu lange im Wasser, entgegnete der Ausguck. Wasserkopf!, spottete er, stand auf, nahm Anlauf und schlug einen Salto. Und überhaupt, rief er: Welche neue Zeit? Das dritte Jahrtausend, sagt Gramner.