In Deutschland bleibt die soziale Herkunft laut der PISA-Studie 2015 entscheidend für den Schulerfolg, und zwar nach wie vor stärker als in anderen Industrienationen. Laut der PISA-Studie aus dem Jahr 2018 hat die soziale Ungleichheit in Deutschland sogar wieder zugenommen.
Deniz Ohde hat sich in ihrem Debütroman ›Streulicht‹ ganz dem Thema der sozialen Ungleichheit und des Rassismus gewidmet, indem sie mit einem klarsichtigen und unverstellten Blick sowie deutlichen Worten den feinen Unterschieden in unserer Gesellschaft nachspürt, die sich von der Kindheit über die Jugend bis ins Erwachsenenleben ihrer Erzählerin ziehen. Von FLORIAN BIRNMEYER
Die Erzählinstanz ist eine fast namenlos bleibende Frau halbtürkischer Herkunft. Sie hat zwei Vornamen, doch ihren türkischen Vornamen, für den sie sich offenkundig schämt, hält sie vor aller Welt geheim.
Aufgewachsen ist sie in einem Ort nahe des nicht näher spezifizierten Industrieparks. Der Park verpestet die Luft des Orts mit einer feinen Säure, an die sich die Anwohnerinnen und Anwohner gewöhnt haben; dazu weht ab und zu Gestank von den Industrieanlagen herüber, und der Schnee ist im Winter von klebriger Konsistenz, ganz anders als anderswo.
Die meisten Leute vor Ort sind der Ansicht, dass die Region ihnen alles bietet, was sie zum Leben brauchen: Supermärkte, Geschäfte, Schwimmbäder, Museen, eine Bank, einen Arbeitsplatz, eine Wohnung. Nur die Erzählerin spricht bereits als Jugendliche den Satz »Wenn ich hier weg bin…« vor sich hin. Sie ist von einem tiefen Fernweh geplagt.
Der Roman beginnt damit, dass die Erzählerin, inzwischen weggezogen und studiert, an den Ort zurückkehrt, wo sie aufgewachsen ist, um an der Hochzeit ihrer Schulfreunde Pikka und Sophia teilzunehmen. Vor der Folie der Gegenwart werden daraufhin die Erinnerungen der Erzählerin an ihre Kindheit und Jugend sowie die Geschichte ihrer Eltern und ihres Großvaters aufgerollt. Die Vergangenheitserzählung nimmt den größten Teil des Textes ein. Da sie aber mit der Gegenwart eng verzahnt ist und die Übergänge teils fließend sind, ist der Schluss erlaubt, dass die Erzählerin den Industriepark und ihre Herkunft bis ins Heute nicht losgeworden ist.
In der gesamten Erzählung schwingt das Rahmenthema soziale Herkunft sowie, damit verwoben, die nicht so leicht abzulegende Scham mit, die fast etwas Körperliches an sich zu haben scheint. Der Vater der Erzählerin taucht 40 Stunden pro Woche als Arbeiter im Industriepark Aluminiumbleche in Laugen. Er misstraut zutiefst den anderen Leuten aus dem Ort und duldet partout keinen Besuch bei sich. Ins Haus kann schon aus dem Grund niemand vorgelassen werden, da es sich beim Vater um einen hoffnungslosen Messie handelt, der die Wohnung der Familie Woche für Woche mit nutzlosen Gegenständen zumüllt. Wenn die Mutter oder die Tochter den Versuch unternehmen auszumisten, wehrt er auf der Stelle ab.
Zu dieser Peinlichkeit kommt noch, dass der Vater sich häufig mit Alkohol betrinkt – und dann ausfällig und gewalttätig wird. Er drischt nicht nur auf die Möbel ein, sondern zerbricht bei Streitereien mit seiner Frau auch Aschenbecher und Gläser an der Wand und auf dem Boden der Wohnung. Wenn die Wohnzimmertür geschlossen ist, hinter der der Vater in der Regel auf dem Sofa sitzt, isst, trinkt und nächtelang fernsieht, müssen sich alle im Haus leise bewegen, um ihn nicht unnötig zu provozieren.
Im Haus herrscht, so erfährt man es bei der Lektüre immer wieder, ein unhinterfragtes Patriarchat, so hilflos der Vater auch manchmal wirken mag. Er kontrolliert seine Frau, indem er wütend wird, wenn sie nicht die gewohnten Abläufe einhält, die ihm angeblich Sicherheit geben. Morgens soll sie sauber machen; wenn er von der Arbeit anruft, soll sie sofort ans Telefon gehen; von neun bis sechs Uhr soll sie im Schlafzimmer liegen, während er im Wohnzimmer die Nacht verbringt.
Die Mutter hat sich mit der Situation abgefunden. »Na und«, sagt sie lapidar und gleichgültig zu den Wutausbrüchen des Vaters. »Wenigstens« erhebe er nicht gegen sie und ihre Tochter die Hand, sondern gehe nur gegen die Gegenstände los. Die Mutter zeigt sich zwar gegenüber Glaubensvorschriften wie dem muslimischen Schweinefleischverbot widerständig, doch beim Vater gibt sie klein bei. Mit ihrer nüchternen Prosa seziert Ohdes Erzählerin gekonnt die unhinterfragten patriarchalen Strukturen:
Die Mutter stammt aus einem Fünfhundert-Seelen-Dorf an der türkischen Schwarzmeerküste, von wo ihre ältere Schwester bereits vor ihr weggegangen ist. Die Mutter ging nicht etwa deshalb weg, weil sie sich ein wohlhabendes Leben in einem anderen Land erhoffte, sondern weil sie es bei der ihr feindselig gestimmten Mutter nicht mehr aushielt, mit der sie nach dem frühen Unfalltod des Vaters allein leben musste. Denn die machte ihr, der ungewollten Nachzüglerin unter sechs Kindern, das Leben in der Türkei absichtlich schwer.
Nach ihrer Ankunft in Deutschland kommt sie zunächst bei ihrer Schwester unter und arbeitet bei derselben Putzfirma wie diese. Dann lernt sie in einer Kneipe des Ortes ihren künftigen Mann kennen. Als der Vater, der lange ledig war, sie seinem eigenen Vater vorstellen, kommt diesem nur ein »Hallo« über die Lippen. Er habe nie etwas gegen »die« gehabt, sagt er seinem Sohn danach, und meint die Ausländer. Doch begeistert ist er von der Wahl seines Sohnes nicht.
Die Mutter redet sich in Deutschland ein, dass niemand »etwas gegen sie« haben könne, trotz ihrer Herkunft. Auf Informationen, die dieser Annahme widersprechen, reagiert sie mit bewusstem Ignorieren: Wenn gewalttätige Ausschreitungen gegen Migranten in den Fernsehnachrichten vorkommen, schaltet sie um, damit die Tochter nichts davon mitbekommt. Über rassistische Taten und Worte geht sie geflissentlich hinweg, ohne sie näher zu erläutern.
Für ihre Tochter wünscht sie sich von Beginn an, dass sie es besser haben soll als sie selbst. Sie soll den sozialen Aufstieg durch Bildung schaffen. Doch im Bildungssystem stößt die Tochter auf mal sichtbare, mal unsichtbare Hindernisse, die sich ihren besser situierten Freunden Pikka und Sophia nicht in den Weg stellen. In der Grundschule kann die Erzählerin zwar bereits etwas rechnen und lesen, als sie eingeschult wird, doch der Vorsprung nützt ihr nichts, weil sie sich nicht traut ihr Wissen in der Klasse laut zu äußern. Sie fühlt sich durchdrungen von einer »Unwissenheit«, »die weit hineinreichte in meine Vergangenheit, weit über den Zeitpunkt meiner Geburt hinaus«.
Bei einem Probealarm sagt ein Mitschüler zu ihr das K-Wort, nachdem er sie auf dem Pausenhof auf den Boden geschubst hat, wobei sie sich verletzt. Die Lehrerin meint darauf, sie müsse lernen, sich besser durchzusetzen und sich ein dickeres Fell wachsen lassen. Ihre Mutter sagt: »Es ist Schimpfwort. […] Aber du kannst nicht gemeint sein. Du bist Deutsche.«
1999 kommen Sophia und die Erzählerin aufs Gymnasium, wo den Schülerinnen und Schülern von den Lehrern eingetrichtert wird, dass sie die künftige Elite seien. Die Erzählerin bringt für die Rede von der Elite nur Unverständnis auf, was sie auf ihre Herkunft zurückführt. In der Schule ist sie bei den Lehrern einer größeren Beobachtung ausgesetzt als die übrigen Kinder. Sie muss sich häufiger dafür rechtfertigen, dass sie aufs Gymnasium geht. Der Französischlehrer sagt ihrem Vater beim Elternabend, dass die ausländischen Kinder immerzu Probleme bereiten, allem Anschein nach, ohne zu wissen, wer überhaupt seine Tochter ist.
Die ständige Anspannung, unter der ich im Klassenraum saß, die Alarmbereitschaft vor der geschlossenen Wohnzimmertür, dieses ständige Abwehren von Gefahren nistete sich in meinem Körper ein.
Während Sophia zum Reiten, zum Turnen und in die Kirche geht, sieht die Erzählerin fern, denkt endlos über Probleme nach, fährt mit ihrem Vater zum Supermarkt und in den Baumarkt oder schreibt heimlich Tagebuch. Sophias wohlerzogene Art und ihre bessere Stellung werden im Laufe des Romans immer wieder mit der schlechteren Stellung der Erzählerin kontrastiert.
Sophia, Pikka und die Erzählerin sind zwar Freunde, aber in dieser – sozial ungleichen – Freundschaft sind die Mechanismen sozialer Ab- und Ausgrenzung am Werk, wenn etwa Sophias Mutter das Zeugnis der Erzählerin abfällig mit einem »Oh« goutiert oder Sophia ihre Freundin wie ein Tier im Käfig lange mit den Augen fixiert, als wäre sie dabei unbeobachtet. Die Eltern von Sophia sind darauf bedacht, stets eine letzte soziale Distanz zur Erzählerin und ihrer Familie zu wahren.
Die Noten der Erzählerin auf dem Gymnasium, das ihre Mutter Jymnasium nennt, sind schließlich so schlecht, dass sie die Schulart wechseln muss. Der erste Bruch. Während Sophia und Pikka das Abitur anstreben, geht die Erzählerin auf eine Abendschule, wo sie auf jede Menge verlorene Existenzen trifft. Die Lehrerin dort glaubt allerdings an die Erzählerin und ermuntert sie, das Abitur zu machen.
Die Schlauheit, die mir die Lehrerin und meine Mitschüler attestierten, wurde nur hinter den Mauern der Abendschule anerkannt, außerhalb blieb nichts davon übrig […].
Nach dem Abschluss an der Abendschule kann die Erzählerin auf ein Gymnasium gehen. Sie wähnt sich nun wieder als ein Teil der »Welt, der Pikka und Sophia angehörten«. Und doch sorgen die Brüche in ihrem Bildungsgang dafür, dass ihre Zeugnisse nicht gleich viel wert sind wie der ununterbrochene Lebenslauf von einer Sophia oder einem Pikka, die nun bereits zu studieren beginnen. Die Erzählerin besucht nach einem Bewerbungsgespräch beim Rektor ein Oberstufengymnasium, etwas weiter entfernt von ihrem Heimatort. Den Abschluss schafft sie mit einer sehr guten Note, obwohl sie auch dort mit ihrer Herkunft hadert. Als die Schülerinnen und Schüler ein Blatt zum Thema »identity« ausfüllen sollen, bekommt sie nichts zu Papier. Die Lehrerin fragt:
»Meine Mutter kommt aus der Türkei«, sagte ich.
»Ach so, nach guck mal, siehst du! Da hast du doch was! – Du fühlst dich aber gut integriert, oder?«
In der Zeit auf dem Oberstufengymnasium wird die Mutter todkrank. Mit sensiblen Worten wird das Thema Krankheit und Sterben behandelt. Die Mutter, sagt der Vater, sei gegangen, nicht gestorben. Weil er nur schwer Abschied nehmen kann, will er vom Tod der Mutter am liebsten nicht mehr sprechen.
Die Erzählerin verlässt nach dem Abitur ihren Vater, um zum Studium in eine andere Stadt zu ziehen, obwohl ihr Freund Pikka sie immer wieder davon zu überreden versucht hat, auch während des Studierens vor Ort wohnen zu bleiben und zu pendeln. Sie will immer noch nur eins: weg. Trotz ihres sehr guten Abschlusses hat sich für ein geisteswissenschaftliches Studium entschieden, in dem die meisten auf Lehramt studieren.
An der Universität trifft sie auf Kinder aus Alt-68er-Familien, die mit einer gewissen Lockerheit die Codes und den Habitus eines Studierenden zu kennen scheinen, die ihr fremd während des gesamten Studiums bleiben. An der Uni fühlt es sich für die Erzählerin »nicht ganz richtig an«, obwohl es ist, wie sie es sich »erträumt hatte«. Sie befreundet sich mit Lukas, der mit Bezug auf Berufschancen meint: »Es gibt nur wenige Plätze an der Sonne.« Diese Plätze scheinen in den Augen der Erzählerin an diffuse Andere vergeben zu werden, aber nicht an sie selbst.
Und tatsächlich hat sie nach dem Universitätsabschluss Probleme, einen Job zu finden. Zunächst nimmt sie eine vorübergehende »Tätigkeit« als Reinigungskraft in einer Anwaltskanzlei an. Daraufhin gerät sie an die Agentur für Arbeit, wo sie in Bewerbungstrainings geschickt wird, ihre Anschreiben auf Fehler durchgesehen werden und ihr vielversprechende Stellenangebote zugespielt werden, auch wenn sie nicht hundertprozentig auf ihr Profil passen. Doch nichts zündet. Derweil ist Pikka mit seinem Dualen Studium bei einem Arbeitgeber im Industriepark fast am Ende angelangt, welches ihm einen Arbeitsplatz vor Ort zusichert. Er und Sophia haben sich verlobt und heiraten.
Das pessimistische Ende dieses nie wertenden Bildungsromans: Die Bildungsaufsteigerin mit halbtürkischen Wurzeln und sozial schwierigem Hintergrund stößt gegen Ende trotz aller Bemühungen an eine gläserne Decke, während bei den gut situierten Figuren mit guten Voraussetzungen und einem klassischen Bildungsweg, die nicht von den vorgezeichneten Pfaden abwichen, alles nach Plan läuft: Hochzeit, sicherer Arbeitsplatz, vermutlich Kinder und Familienglück.
›Streulicht‹ deckt ohne Wertung die menschlichen und systemischen Sollbruchstellen im deutschen Bildungs- und Berufssystem auf, derentwegen die Erzählerin das Vorankommen erschwert wurde und die sie zu einer Biografie mit Brüchen zwingen. Die unmissverständliche Botschaft des Buches lautet, dass nicht allein die Fähigkeiten und Fertigkeiten über den Bildungs- und Berufserfolg eines Menschen entscheiden, sondern dass bis heute die soziale Herkunft und damit verbundene Vorurteile und Rassismen für das Vorwärtskommen prägend sind.
Es handelt sich um einen modernen Nachfolgeroman von Hermann Hesses »Unterm Rad« (ein Roman, der auch im Text erwähnt wird); denn es wird das Versagen eines Systems illustriert, in dem eine einzelne Person unterzugehen droht.
Am Ende des Romans gehen der Erzählerin in der Jetzt-Zeit einige Stimmen durch den Kopf, die ihrer früheren Lehrer, die ihres Uni-Professors und eine anklagende Stimme gegen das Schulsystem. Die Klage soll zum Abschluss wiedergegeben werden:
Deniz Ohde erhielt für ›Streulicht‹ den Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung 2020. Darüber hinaus steht der Roman mit vier weiteren Kandidaten auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Ohde, geboren 1988 in Frankfurt am Main, studierte Germanistik in Leipzig, wo sie bis heute lebt.
Titelangaben
Autorin: Deniz Ohde: Streulicht
Suhrkamp 2020
284 Seiten, 22 Euro
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