Ganz Berlin in einer Nacht

Roman | Volker Heise: Außer Kontrolle

Volker Heise (Jahrgang 1961) hat bisher als Dramaturg, Regisseur und Produzent für Fernsehen und Kino gearbeitet. Eines seiner mit zahlreichen Preisen ausgezeichneten Filmprojekte hieß ›24 h Berlin‹ (2009). Mit Hilfe von mehr als 70 Regisseuren dokumentierte Heise damals einen Tag im Leben der deutschen Metropole. Als Romanautor debütierte der 56-Jährige nun mit ›Außer Kontrolle‹, einem die quirlige Atmosphäre der Großstadt Berlin raffiniert einfangenden Buch, das ein halbes Dutzend Menschen auf ihrer immer verzweifelter werdenden Jagd nach dem Glück begleitet. Bis zum bitteren Ende all ihrer Illusionen. Ein Debüt, wie man es nicht oft zu lesen bekommt. Von DIETMAR JACOBSEN

Heise Ausser Kontrolle - 978-3-7371-0023-6Jan Herzog ist 21 Jahre alt und sieht sein Glück zum Greifen nah. In einem Berliner Edelrestaurant will er sich mit Nadine, seiner Freundin aus dem Callcenter, verloben und endlich dafür sorgen, dass der Mann, der ihr mehr Sicherheit verspricht und den sie deshalb heiraten will, aus ihrem Leben verschwindet. Tobias Naujocks, der Sternekoch und Inhaber des Restaurants »Paris«, war einst in aller Munde. In letzter Zeit aber laufen die Geschäfte nicht mehr so gut, die Schulden drohen, ihn zu erdrücken.

Polizeiobermeister Axel Hentschel hätte gern seine Frau und Sohn Nick zurück. Sie aber hat sich auf eine Affäre mit Hentschels Chef Goran Kostic eingelassen. Und Hentschel muss sich erst einmal um Weber kümmern, einen bei den Kollegen nicht gerade beliebten Anfänger im Streifendienst, der den einstigen SEK-Mann hemmungslos bewundert. Dazu kommen ein junger Arzt namens Siebert, der sich bereits an seinem zweiten Arbeitstag den Dingen nicht mehr gewachsen fühlt, sowie Lehmann, ein der 73-jähriger Rentner, der, wenn er seinen Hund Wolf ausführt, an die Wendezeit zurückdenkt: »Was hatten sie denn gedacht, was der Westen bringen würde? Kapitalisten sind doch keine Weihnachtsmänner, die Geschenke verteilen«. Über all diesen Figuren und der Stadt, durch die sie sich eine Nacht lang bewegen, aber schweben in Volker Heises Romandebüt ›Außer Kontrolle‹ ein schwarzer Engel und ein Heißluftballon.

Siamesische Kampffische

›Außer Kontrolle‹ reiht Szenen aus der Großstadt aneinander. Szenen aus Berlin, Szenen aus der Zeit der großen Krise um das Jahr 2008 herum. »In einem Hochhaus huschen Angestellte hinter den Scheiben vorbei und tragen Kartons mit ihren Habseligkeiten zum Taxi.« Die Lehman-Brothers-Pleite, per Fernsehen in alle Welt übertragen. Aktienkurse sinken, Kapital »verflüchtigt sich, als wäre es austretendes Gas«.

Nirgendwo mehr Zukunft, nur triste Gegenwart. Und doch herrscht Frieden in der Mitte Europas, schlagen sie sich die Köpfe woanders ein, wie es an einer Stelle des Romans heißt. Aber das ist ein Irrtum. Denn die Handvoll Menschen, die in Heises fiebrigen Szenen einer Nacht in sieben Teilen agiert – der erste Teil heißt »Anflug«, der letzte ist mit »Abflug« überschrieben –, benimmt sich nach und nach wie die Siamesischen Kampffische, die der Koch Naujocks in einem der zahlreichen Aquarien, die das Restaurant »Paris« verschönern, hält: »Wenn die einen anderen Kampffisch sehen, […], gehen sie sofort aufeinander los. Bis einer tot ist. Die sind so aggressiv, die hassen ihr eigenes Spiegelbild.«

Gewalt liegt in Heises Debütroman von Anfang an in der Luft. Nicht die offene, ungebremste Lust am Töten, wie sie auf den immer zahlreicher werdenden Kriegsschauplätzen dieser Erde ausgelebt wird, sondern Gewalt, die mitten unter uns aus scheinbarer Ohnmacht entsteht. Aus dem Gefühl heraus, nicht mehr der Herr im eigenen Leben zu sein. Aus der Überzeugung, mehr verdient zu haben, als man bekommen hat. Aus einem Glücksanspruch, der zu allem zu berechtigen scheint und sich für die »Proletarier der neuen Generation«, auch wenn sie alles dafür in die Waagschale werfen, dennoch nicht verwirklichen lässt: »Du musst es [das Glück – D.J.] zwingen, weil das Glück gezwungen werden muss […] Du musst es zwingen, dann bleibt es bei dir. Du musst es verteidigen, zur Not mit Faust oder Messer oder Sense.«

Das Totenschiff

Und so nimmt Heises Geschichte ihren Lauf. Führt Jan und Nadine ins Edelrestaurant von Tobias Naujocks und lässt den jungen, zum ersten Mal in seinem Leben kurz vor der Erfüllung aller seiner Träume stehenden Mann dort eine kleine Katastrophe anrichten. Die aber groß genug ist, um in dem ohnehin mit sich und seinem Schicksal hadernden Koch etwas endgültig zerbrechen zu lassen. Von da an ist es nicht mehr weit bis zur Konfrontation Jans mit den beiden Streife fahrenden Polizisten, von denen der eine zunehmend verzweifelt ist, während der andere glaubt, unbedingt etwas beweisen zu müssen. Es wird für sie alle nicht gut ausgehen.

Und die Stadt als heimliche Heldin dieser Geschichte? Am Anfang nähert sich die Erzählerstimme deren Durcheinander von sich kreuzenden Autobahnen, Häuserschluchten, Tankstellen, Bau- und Möbelmärkten, den Millionen von Einzelschicksalen in den Häusern, auf Bahnsteigen und in Restaurants aus der Luft. In einem lautlos gleitenden Heißluftballon, dessen Mission zunächst noch so dunkel bleibt wie die langsam den Glanz des Tages verlierende Welt, wird man als Leser, »vom Westen her« kommend, langsam an den Schauplatz herangeführt. Nimmt erst das Ganze, dann die Einzelheiten wahr, um schließlich an einer Handvoll Figuren hängen zu bleiben, die man durch die anbrechende Oktobernacht begleiten wird, bis drei von ihnen am nächsten Morgen nicht mehr leben.

Erst dann wird die Funktion des sich immer über den Geschehnissen aufhaltenden Ballons klar. Er ist eine Art Totenschiff, gekommen, um am Ende die Seelen der Verstorbenen abzutransportieren. Zurück bleiben die toten Körper von drei Männern und eine ob all der über Nacht verschwundenen Hoffnungen und Illusionen scheinbar unberührte Stadt, die, vom abfliegenden Ballon aus gesehen, wirkt »wie ein riesiger Organismus, für den die Menschen nur ein Rohstoff sind. Es geht weiter, immer weiter, Generation für Generation.«

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
Volker Heise: Außer Kontrolle
Berlin: Rowohlt Berlin Verlag 2017
239 Seiten. 20,- Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

1 Comment

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Bücher sind zum Lesen da

Nächster Artikel

Mit dem Wolf durch den Wald

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Ein Stuntman faked seinen Tod

Roman | Ross Thomas: Der Fall in Singapur

Ross Thomas und der Berliner Alexander Verlag – das passt seit anderthalb Jahrzehnten. Von den insgesamt 25 Romanen, die der amerikanische Kultautor zwischen 1966 und 1994 schrieb, sind unter der Regie von Alexander Wewerka in dessen kleinem Berliner Verlagshaus inzwischen 20 erschienen. In wiedererkennbarer, schöner Aufmachung kommt die Reihe daher. Und die meisten Einzelbände bringen den kompletten Thomas-Text zum ersten Mal vollständig auf Deutsch. Nun also Der Fall in Singapur, Thomas' einziger Mafiaroman, wie der Verlag betont. Aber ob Mafia- oder Wirtschaftskrimi, Polit- oder Detektivthriller – der 1995 in Santa Monica verstorbene Ross Thomas schrieb immer auf einem Niveau, von dem 90 Prozent seiner Kolleginnen und Kollegen auch heute nur träumen können. Von DIETMAR JACOBSEN

Zwischen Glaswolle und Gummiknüppeln

Roman | Frank Goldammer: Juni 53

Mit seiner Reihe um den Dresdener Kriminalpolizisten Max Heller hat Frank Goldammer (Jahrgang 1975) es längst in die Bestsellerlisten geschafft. Band 5 heißt Juni 53 und spielt mit seinem Titel auf die Tage der Arbeiterproteste in der DDR an. Auch in Dresden gehen aufgebrachte Werktätige auf die Straße. Man protestiert gegen kaum erfüllbare Produktionsnormen, Versorgungsengpässe und eine Regierung, die ihre Direktiven gnadenlos nach unten durchdrückt und vor der bedrückenden Realität die Augen verschließt. Dass der brutale Mord im VEB Rohrisolation, den Heller und sein Kollege Oldenbusch aufklären sollen, etwas mit den am 17. Juni in vielen Städten in Gewalt umschlagenden Aufständen zu tun hat, steht für einen mitermittelnden Stasi-Offizier schnell fest. Doch Max Heller verfolgt eine andere Spur. Von DIETMAR JACOBSEN

Der Mann, der vom Himmel fiel

Roman | Gianna Molinari: Hier ist noch alles möglich Eine ehemalige Bibliothekarin sucht eine neue Identität als Nachtwächterin. Dennoch wird sie weiterhin vom Aufspüren und Recherchieren, Sammeln und Archivieren verfolgt. Das kann zu schrecklichen Entdeckungen führen. Hier ist noch alles möglich prophezeit die Schweizer Schriftstellerin Gianna Molinari in ihrem kürzlich erschienenen Debüt-Roman. Von INGEBORG JAISER

Zwischen den Kriegen

Roman | Krimi | Robert Hültner: Am Ende des Tages Mit Paul Kajetan hat Robert Hültner in seinem neuen Roman Am Ende des Tages eine Figur geschaffen, mit deren Hilfe es ihm gelingt, seinen Lesern das Deutschland zwischen den beiden Weltkriegen zu erklären. Die bisher vorliegenden sechs Romane um den unangepassten Mann, dessen Aufrichtigkeit und moralische Integrität ihm Anfang der 20er Jahre seine Polizeikarriere gekostet haben, verbinden spannende Unterhaltung mit einem facettenreichen Zeitporträt. Allerdings sieht es am Schluss des aktuellen Abenteuers ganz so aus, als wäre es Kajetans letzter Fall. – Von DIETMAR JACOBSEN

Ein Superheld im Super-Wirr-Warr

Roman| Alina Bronsky: Nenn mich einfach Superheld Wie kann das arme Opfer eines Kampfhundunfalls ein Superheld sein? In Alina Bronskys Roman Nenn mich einfach Superheld beweist Marek genau dies, indem er das Leben mit all seinen Problemen, Verrücktheiten und Liebeleien gekonnt meistert – mit einer ordentlichen Portion Sarkasmus in petto. Von ANNA NISCH