Es würden weit mehr Engel existieren, als man gemeinhin annehme, versicherte Tilman. An den Abenden, sagte er, spüre er sie wie Katzen, die sich auf seinem Bauch niederließen, nur daß es eben keine Katzen seien, und sie würden schnurren vor Wohlbehagen, nur daß das eben nicht hörbar sei.
Jedesmal mit dem Einschlafen wisse er, daß sie ihn aufsuchen würden, zu dritt, sagte er, mindestens, da sei er sicher, doch er zweifle daß es immer dieselben seien, und sie würden sich auf dem Bauch fokussieren.
Sie drängen unmerklich ein und breiteten eine behagliche Stille aus, sagte er, der Schlaf sei nun einmal eine Präsenz von Engeln, das sei unstrittig. Es handle sich um mächtige Engel, die die tagsüber angestrengt tätige Welt in das schwärzeste Dunkel tauchen, und der aufgeregte Lärm des Tages verstumme in ihrer Finsternis. Deswegen, versteht ihr, sei Schlaf erholsam. Im Menschen, sagte er, würden sich Energien der Engel materialisieren, der wache Mensch, im Grunde existiere er nicht, sondern sei, und jetzt lachte Tilman befreit, lediglich eine gegenständliche Projektion.
Die Engel, sagte er, würden sich wohlfühlen, solange der Mensch schlafe, sie entfalteten ihre heilsame Welt bis in die äußersten Winkel seiner Seele, hemmende Verstrickungen würden entknotet, Last und Mühsal des Tages lösten sich auf.
Sobald der Morgen graue, würden sie unruhig, und nur zögerlich, ja widerstrebend entließen sie den Menschen in den Tag, der Übergang sei jedesmal wieder schmerzhaft, sagte Tilman, sie hängen am Menschen, an seinem Wohlergehen, er lächelte.
Nein, das, was sich als Wissenschaft bezeichne, sei nicht imstande, diese Zusammenhänge zu erkennen, weshalb, sie habe keinen Zugang zu diesen Themen, die man ja weder zählen noch messen könne, auch nicht fotografieren, nein, schon gar nicht fotografieren.
Er wisse nicht, wo Engel sich tagsüber im einzelnen aufhielten, sagte er, vielleicht daß sie sich verspielt in tosenden Winden und Orkanen wiegen oder in den schwankenden Wipfeln der Bäume tanzen, er werde darüber nachdenken müssen; sie beobachteten aber die täglichen Abläufe höchst aufmerksam und seien voller Sorge, daß die Menschen, ihre Zöglinge, vom grellen Licht und falschen Glanz geblendet, sich leichtfertig verlocken ließen, Tag für Tag, und andere lebten in Abhängigkeit von Besitztum, sei es realer, sei es finanzieller Besitz, der Mensch, so sei ihre Sorge, lasse sich auf Irrwege führen.
Nein, die Engel würden bei Tage nicht in den Lauf des Geschehens eingreifen, das sei nicht ihre Aufgabe, der Mensch gestalte diese Abläufe, sagte Tilman, im Grunde gehe es darum, die kostbaren Energien des Lebens im rauhen Alltag zu erhalten und zu pflegen, tagsüber ginge viel Kraft verloren, und sie, soweit es denn möglich sei, unbeschadet bis in die Dämmerung hinein zu begleiten.
Das falle dem Menschen jedoch schwer, sagen sie, womöglich werde von ihm zu viel verlangt, es handle sich um eine äußerst heikle Balance, und das allgegenwärtige Elend mit anzusehen, bereite Qualen. Der Mensch sei überfordert damit, die äußeren Bedingungen so ausgeglichen zu gestalten, daß niemand Hunger leide, und sein aggressiver Umgang mit dem Planeten gefährde überdies dessen Gleichgewicht.
Die Engel ihrerseits ertrügen das rohe Licht der Sonne nicht, vermutete Tilman, unerbittliche Helligkeit und der gleißende Glanz würden selbst ihre Kräfte lähmen. Nein, wie solle er das erklären. Der zierliche Schein des Mondes ist’s, von dem sie sich nähren, habt ihr denn nie sein zartes Licht gesehen, das sich behutsam auf die Welt legt und das Getöse des Tages zum Schweigen anhält?
Tilman lächelte. In diese Abläufe eingreifen zu wollen, sei vermessen. Wo der Mensch sich einmische, richte er Schaden an, im hellen Licht des Tages sei er gewalttätig, aggressiv, uneinsichtig, nicht aufzuhalten in seiner Gier. Es komme aber trotz alledem darauf an, ein ausgeglichenes Naturell anzustreben, für den Planeten ebenso wie für den Menschen, das die widerstreitenden Energien über den Tag hin balanciere, das sei nicht viel verlangt, oder, weshalb solle das nicht möglich sein.
Nein, das sei ein brisantes Thema, er verstehe davon nichts, bekannte Tilman aber sogleich, rein gar nichts, jedes Wort sei ein Wort zu viel, und er sei lediglich glücklich, an den äußeren, den fragilen Rändern des Lebens einen Halt gefunden zu haben. Für wie lange, nein, das liege nicht in seiner Hand.
| WOLF SENFF
| Titelfoto: EinDao, Carl Gutknecht (1878–1970) Bildhauer. Wachende Engel, 1960. Friedhof am Hörnli, Basel, CC BY-SA 4.0