DIE HANDYS HOCH!

Lyrik | Martin Jürgens: DIE HANDYS HOCH!

Vom Bildermachen in den Zeiten vor der Pandemie

 

1

Ob Scampi, Knödel, Cordon bleu,

Ob Wachtel oder Grützwurst, bis hin

Zum Semifredo und zur Crème Brulée –

Was immer auf den Tisch kommt,

Ganz egal: Die Herrlichkeit der

Küchen dieser Welt – sie wird,

Bevor sie ihren Weg durch

Unsre Körper nimmt, geknipst

Wie auf Befehl:

 

Die Handys hoch

Vor dem Genuss

Und Bilder machen

Noch und noch

Und wie noch nie,

Als ließe sich das

Leben, sieht man sie,

Auch anderswo von

Anderen entfachen.

 

2

 

Sie sah so fertig aus, so glücklich

Und noch immer wie erregt und

Sagte: Nimm mich auf, so wie

Ich bin, jetzt gleich, und

Lehnte sich zurück. Ich

Tat es, sah im Display sie

Und wieder sie und tippte

Auf den kleinen weißen

Kreis am Rand

Und Klick.

 

Das Handy hoch

Und Bilder machen

Noch und noch

Und wie noch nie

Als ließe sich das

Leben, sieht man sie,

Im Nachhinein entfachen, als

Könnten wir einander und uns selbst

Begegnen wie zum ersten Mal

Mit frischen Augen, du und ich,

In jedem neuen Bild von uns

Aus unsrer eignen Hand, die

Wir mit unsren Handys

Aus der Tasche ziehn.

 

3

 

Ich stand an Deck und

Zog es aus der Tasche

Kurz nach Mitternacht und

Hörte, wie der blonde Hans

Von unten sang „Ach, komm

Doch süße Kleine, sag nicht nein“,

Sah auf dem Display beinah nichts

Als Nacht und drückte ab und sah

Ins Dunkle, blickte wieder hin: Das

Kleine Viereck zeigte einen Mastenwald

Und hinter Wolken einen halben fahlen

Mond und ganz viel dunkles Blau und

Ich erschrak: das Objektiv sah

Mehr als meine Retina.

 

Die Handys hoch

Und Bilder machen

Noch und noch

Und wie noch nie

Als ließe sich das

Leben, sieht man sie,

Im Nachhinein entfachen,

Als könnten wir uns selbst

Begegnen wie zur Kinderzeit

Mit frischen Augen und der

Himmel immer blau und dann

Mit einem Mal – wir ahnen es

Und wollen es nicht wissen –

Nie mehr, in keinem neuen

Bild von uns aus unsrer

Eignen Hand, die wir

Mit unsren Handys

Aus der Tasche ziehn,

Millionenfach in jedem

Augenblick an jedem

Ort auf Erden.

 

4

 

Da lagen sie am Rand der

Autobahn und bluteten und

Blaulicht links und rechts.

Wir zogen dran vorbei und

Sahen hin und wieder weg,

Und einer von uns hielt

Mit seinem Handy drauf,

Einmal und noch einmal,

Cool bis ans Herz hinan.

 

Die Handys hoch

Und Bilder machen

Noch und noch

Und wie noch nie,

Als ließe sich das

Leben, sieht man sie,

Im Nachhinein entfachen,

Als könnten wir uns selbst

Begegnen wie zur Kinderzeit

Mit frischen Augen und

Danach nie mehr in keinem

Neuen Bild von uns aus

Unsrer eignen Hand, die

Wir mit unsren Handys

Aus der Tasche ziehn,

Millionenfach in jedem

Augenblick an jedem Ort

Auf Erden: Bild um Bild um

Bild, bearbeitet, geteilt, ins

Netz gestellt, geliked, und

In den Nächten in den großen

Städten funkeln die Arenen –

Blitzlichtgewitter unsrer Handys –

Wie Schalen voller Diamanten,

Bis daß der erste Tag des Ekels

Kommt, der übergroße Überdruß

Ganz ohne Vorwarnung.

 

Ganz ohne Vorwarnung ist er

Jetzt da und bleibt und bleibt, und

Ohne Aussicht auf ein Quäntchen

Trost ruft er dir zu: Lass ab,

Es reicht, jetzt keine Bilder mehr,

Nie mehr, die Zeit wird knapp.

Nichts mehr aus zweiter Hand

Und keine halben Sachen:

Das Leben ließ sich nie,

Das Leben läßt sich nie,

Im Nachhinein entfachen.

 
 

| MARTIN JÜRGENS

Martin Jürgens, geb. 1944, lebt in Berlin; er war dort Hochschullehrer, arbeitete als Regisseur für Theater in Berlin, Münster und Köln, er publizierte diverse literarische und wissenschaftliche Arbeiten und verfaßte Hörspiele für Radio Bremen und den WDR. Viele seiner Lyrik-Beiträge für ›Konkret‹ erschienen unter dem Titel ›Frau Merkel sieht auf ihrem Schuh ein Streifenhörnchen, das sich putzt‹ (2015).

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Abenteuer Zirkus

Nächster Artikel

Auflösung

Weitere Artikel der Kategorie »Lyrik«

Satyrspiele oder Die Jagd ins Bockshorn

Lyrik | Marco Tschirpke: Gedichte – Band 1 Marco Tschirpke, der uns als satirischer Musikkabarettist bekannt ist, hat mit seinen Soloprogrammen unter anderem den Deutschen Kabarettpreis 2007 erhalten. Seit kurzem gibt es die ›Gedichte Band 1‹ (2012) im Verlag André Thiele – ein ambitioniertes Projekt. Und nun hat Tschirpke nachgelegt: Seine Gedichte sind als Hörbuch erschienen – ›Schiffe tuten auf dem Meer‹ – und werden von keinem anderen als Harry Rowohlt gelesen. HUBERT HOLZMANN hat in die CD reingehört und nebenbei im Gedichtband geblättert.

Offenes Gewässer

Lyrik | Christian Saalberg: Vor dem Portal VOR DEM PORTAL sitzen Bettler mit ausgestreckten       Händen, die sie langsam sinken lassen. Vorsichtig steigen die Vögel von den Bäumen, eine       Laterne in der Hand, um nicht zu stolpern. So kann es einem ergehen, wenn man jeden Morgen       das Haus durch die falsche Tür verläßt.

Drei Gedichte

Lyrik | Peter Engel: Drei Gedichte

Leben im Februar

Schon am Vormittag mit Lampenlicht,
um den Tag aufzuhellen
und den Stift sicher zu führen,
Düsternis fällt in die Zeilen
und läßt sich nicht wegschreiben.

Ein unentschlossener Himmel
in der Mittagszeit und manchmal
fast eine Ahnung von Frühling,
festgemacht an einfallenden
Strahlen, die das Zimmer ausleuchten.

Das Schlimmste ist nicht die Einsamkeit

Lyrik | Menschen | Aron-Thorben Zagray: Das Schlimmste ist nicht die Einsamkeit

Aron-Thorben Zagray legt sein Werk ›Das Schlimmste ist nicht die Einsamkeit‹ in einer zweiten Auflage vor. Diese hat sich sichtlich verändert. MARC HOINKIS schaut einmal genauer hin und befragt den jungen Autor.

Das Glück liegt in blauen Kleidern

Lyrik | Sophie Reyer: Fünf Gedichte

dein Geruch schläft
neben mir rahmen
laufende Streifen den
Horizont ein: Sonnenflut die
Gelenke der Erinnerungen
ineinander geschoben sind wir
wieder Kind:

Wirklichkeiten