Sie heißen Amy und Aiko, Tessa und Tara, Robert und Basil. Dieses entsetzliche Glück ist das unerreichbare Ziel, dem sie unentwegt entgegenhecheln, egal ob sie Bücher schreiben, Häuser verkaufen oder Anthropologie studieren. Annette Mingels hat mit ihrem neuen Buch einen hellsichtigen Episodenroman verfasst, der sich tief in die Befindlichkeiten unserer Gesellschaft gräbt. Für die Lektüre sollte man sich Zeit zu lassen. Von INGEBORG JAISER
Manche literarischen Schauplätze bauen sich beim Lesen wie filmische Kulissen auf. So wie die fiktive Kleinstadt Hollyhock in Virginia, eine vermeintliche ländliche Idylle mit Holzhäusern im Kolonialstil, Hollywoodschaukeln und gepflegten Vorgärten, die mit »Plastikflamingos, farbigen Windrädchen und Make-America-Great-Again-Parolen« dekoriert sind. Eine leicht einlullende, unterschwellig brodelnde Atmosphäre, wie in einer Inszenierung von David Lynch. Dahinter könnte sich ein Thriller verbergen – oder auch nur der ganz alltägliche Wahnsinn.
Schwäche und Scheitern
Annette Mingels hat sich für letzteres entschieden. Auf den ersten Blick unspektakulär, doch nur oberflächlich harmlos. Hinter den gepflegten Fassaden und scheinheiligen Alltagsroutinen verbergen sich gescheiterte Ehen und brüchige Beziehungen, lauern Krankheiten, Fehlgeburten und Todesfälle, lodert Scheitern und Versagen. Bleibende Brüche durchziehen die Biografien der Protagonisten, nur notdürftig zugespachtelt und verputzt. Geradezu exemplarisch erscheint ein Moment aus dem Leben der Maklerin Susan, die nach einer Hausbesichtigung weinend auf ein Sofa sinkt, ernüchtert vom offensichtlichen Glück anderer.
»Nichts davon gehörte ihr; nicht dieses Haus, nicht dieser Garten (…), keines der Kinder, kein Mann, der es nicht lassen konnte, sie in den Arm zu nehmen, auch wenn sie erschöpft und nicht sonderlich hübsch war. Nicht einmal zwei Brüder hatte sie, zumindest keine, die sich je um sie gekümmert hätten.« Doch schon nach wenigen Minuten der Schwäche kehrt eine trotzige Selbstachtung zurück. »Es hatte Jahre gedauert, bis sie diejenige Maklerin in Hollyhock war, die die besten Häuser in ihrem Portfolio hatte. Das ist doch was, dachte sie. Das ist zumindest nicht nichts.«
Ein Versprechen Gottes oder eine Drohung
Nicht jedem gelingen Strategien gegen die täglichen Widrigkeiten und Stolpersteine. Der Schriftsteller Kenji erlangt mit seinem ersten Buch keineswegs Berühmtheit, sondern gibt bestenfalls Kurse in Kreativem Schreiben für geistig Behinderte. Auf der Suche nach tröstlichen Impulsen kommt ihm just eine unglückliche Jugendliebe in den Sinn.
»Jetzt daran zu denken war wie eine verkrustete Wunde aufzukratzen: töricht, schmerzhaft und unwiderstehlich.« Selbst Lizzie, die sich aus verworrenen Familienverhältnissen kämpft, vermag kaum ihren Sohn Zac zu beschützen. »Wherever you go I go with you, sang sie manchmal, wenn er hinter ihr im Auto saß. Sie sang es zu einer Melodie von Ed Sheeran, aber eigentlich war das ein Vers aus der Bibel, ein Versprechen Gottes oder eine Drohung.«
Mal Heimat, mal Flucht
Man könnte Dieses entsetzliche Glück wie eine gelungene Sammlung von Erzählungen lesen, doch das wäre nur das halbe Vergnügen. Alle fünfzehn Geschichten (oder Kapitel) tragen einfache Titel menschlicher Eigenschaften und Charakteristika. Retter. Romantiker. Blindgänger. Schwimmer. Narzissten. Doch die letzte und wundersamerweise versöhnlichste Story fasst das Resultat aller Verwerfungen und Schicksalsschläge in lapidarer Klarheit zusammen: Scherben. Auf dem Weg dorthin hat man als Leser längst erkannt, dass viele Personen wiederholt auftauchen, dass alle Geschichten und Geschicke miteinander verbunden sind, mehrfach verwoben und verstrickt, wie in einem unendlichen Netzwerk aus Familie, Freundschaft, Heimat. Doch die Lektüre erfordert einen souveränen Leser, der dem Kaleidoskop aus vielfältigen Perspektiven mit aufmerksamer Spurensuche begegnet. Da jede Geschichte mehrere Sichtweisen birgt, ist zuweilen forschendes Vor- und Zurückblättern angebracht.
Mit virtuosem Geschick gelingt es Annette Mingels, die Befindlichkeiten ihrer Personen in der Schwebe zu halten, die in seltenen Momenten der Klarsicht alle Verzweiflung und Verlorenheit mit einer plötzlichen Erkenntnis erhellt. Wie fragil auch die Konstellationen sein mögen, sie unterliegen unterschwelligen Verbindungen von Orten, Häusern und Menschen. Für die einen bedeutet es Heimat, für die anderen Flucht. Denn Hollyhock ist überall.
Titelangaben
Annette Mingels: Dieses entsetzliche Glück
München: Penguin Verlag 2020
347 Seiten. 20.- Euro
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