Halb zehn war seine Zeit gewesen, anzurufen, am Freitag, am Donnerstag oder bereits am Mittwoch, ich hatte gefrühstückt, sagte Tilman, und wir verabredeten uns für den Sonnabend oder den Sonntag zu Kaffee und Kuchen, wir hatten ein gediegenes Stamm-Café aufgetan, nein, nicht das Gnosa, ich ging, du weißt es, Susanne, sonst gern auch ins Gnosa, manchmal bestellte er eine Kleinigkeit zu essen, das war uns zur festen Gewohnheit geworden, nicht jedes Wochenende, aber in regelmäßigen Abständen, das Leben basiert auf unverrückbaren Gewohnheiten, Robert hatte sich auch um seine Enkel zu kümmern, der Zehnjährige spielte im Fußballverein und sang im Schülerchor, wir hatten stets ein Menge Gesprächsstoff.
Das ist ein Jahr her, die Zeiten haben sich dramatisch geändert, er erlebte von den Restriktionen des täglichen Lebens noch die Anfänge, sein Leben fiel in die drei, vier Jahrzehnte des Wohlstands, in jene Zeiten, als man, erinnern wir uns, hohe Standards von Lebensqualität einforderte, selbstverständlich.
Einige Jahre lang pflegte er ein Verhältnis mit einer Professorin für Literatur in Recife, hielt sich stets mehrere Monate lang dort auf, gewann Anschluß an die deutsche Kolonie, knüpfte Freundschaften, er war ein angenehm umgänglicher, geselliger Charakter, wurde auf ein Landgut eingeladen, die Besitztümer der Wohlhabenden sind weithin verstreut, die Welt, nicht wahr, ist ein Dorf, Robert genoß seinen Ruhestand, keine Flugangst, er konnte behaglich reisen, wurde selbst auch in Deutschland besucht, unser gemeinsamer Zahnarzt besitzt ein Anwesen in Pernambuco, nicht weit von Recife, es gab, wie gesagt, viel Gesprächsstoff, sein Leben fiel, ich erwähnte das, in die drei, vier Jahrzehnte des Wohlstands.
Was das sei, fragte Susanne, ein erfülltes Leben.
Man wisse das nicht, doch es höre sich erstrebenswert an, das Gegenteil wäre ein leeres Leben.
Klingt alles nicht gut, Tilman, vor allem müsse ein Leben sinnvoll sein.
Robert war umtriebig, und alles, wie auch anders, bevor die Seuche hereinbrach, nach dem Tod der Brasilianerin hatte er eine Freundin in Rostock, Bahnhofsnähe, hielt sich nun häufig in Rostock auf, er hatte ein Händchen für wohlhabende Frauen, mit familiären Zweigen nach Rumänien und in die USA, internationales Flair, erneut ein Hauch große Welt, doch ebenso, ich erwähnte die Enkel, fühlte er sich in seiner Familie verwurzelt, wenngleich er seit Jahren getrennt von seiner Ehefrau lebte und ein freundschaftliches Verhältnis aufrechterhielt, sie begegneten einander bei familiären Anlässen, eine Menge Tratsch, auch gehässig, Sticheleien über ungestillten Durst nach Leben und über Affairen im hohen Alter, er lud sich Strapazen auf, fuhr am Freitag zur Tochter nach Bremen und spät am Samstag nach Rostock, stundenlang ließe sich davon erzählen, unterhaltsam erzählen.
Kompliziert.
Du steckst nicht drin, und er ist es, der sich zurechtfinden muß.
Susanne trank einen Schluck Tee, sie hatte das erlesene Ming-Service mit dem Drachenmotiv aufgedeckt, rostrot, es wurde mehrfach erwähnt, der Drache ist ein von Grund auf falsch verstandenes Geschöpf, der Mensch kommt nicht zurecht im Leben.
Solange es für Robert Sinn ergibt, hat er recht.
Es kann nicht darum gehen, Tilman, wer recht hat.
Du kannst das nennen, wie du willst. Er klagte über sein Knie, und nach einer Weile auch über die Rostockerin, daß sie kapriziös sei, war darin sogar einer Meinung mit ihren Söhnen, in Norderstedt lernte er wenig später eine Frau aus Danzig kennen, eine späte Kunstmalerin, und sprach davon, ihre Einladung anzunehmen, er blieb begeisterungsfähig, er hatte seinen jugendlichen Elan nie verloren.
Jedem das, was er für richtig hält.