Smalltalk unter Dandys

Kurzprosa | Martin Suter, Benjamin von Stuckrad-Barre: Alle sind so ernst geworden

Zeiten ändern sich, die Befindlichkeitslage auch. Alle sind so ernst geworden, konstatieren Martin Suter und Benjamin von Stuckrad-Barre, teils verwundert, teils amüsiert, doch selten wirklich in Sorge. So kreisen ihre Gespräche und Gedankenspielereien eher über beruhigende Belanglosigkeiten wie Kochen, Fotos, Badehosen. Oder die Betonung von Ibiza. Von INGEBORG JAISER

Was ist das? Ein Gesprächsprotokoll? Ein etwas ungewöhnlicher Essayband? Ein verbales Pingpong-Spiel? Ein Schlagabtausch im Smalltalk-Format? Ein klug konzipierter Lückenfüller? Ein ins analoge Medium transkribierter Podcast? Oder alles zusammen und doch nichts davon? Etwas überraschend beamte sich Alle sind so ernst geworden in die Bestseller-Charts, aufgeheizt durch eine geschickte Marketing-Strategie.

Wochenlang hypten illustre Influencer und Promis der Kulturbranche die Neuerscheinung in euphorischen Instagram-Videos. Erstaunlich viele ließen sich zu diesem Freundschaftsdienst verleiten: Katja Riemann (»Ich bin gespannt«) und Ronja von Rönne (»hinreißend«), Sascha Lobo (»unfassbar beeindruckt«) und Clueso (»megamäßig«), Karolin Kebekus, Laura Karasek und die Kaulitz-Brüder sowieso.

Kein Soloalbum

Jetzt aber mal ganz von vorn. Die (möglicherweise gefakte?) Legende will, dass sich Martin Suter und Benjamin von Stuckrad-Barre im Hochsommer (zufällig?) in einem Ostseebad treffen und spontan ganz nett finden. Ihr entspannter Kennenlerndialog wird später fortgesetzt und entwickelt sich zur mal hinreißend komischen, mal irrwitzig mäandernden Gesprächsreihe. Vorzugsweise zelebriert in einem noblen Grand Hotel in Heiligendamm. Zwischendrin auch mal als Homestory bei Suter zuhause.

Doch mal ehrlich: Martin Suter und Benjamin von Stuckrad-Barre, wie soll das harmonieren? Hier der soignierte, kultivierte Schweizer Bestsellerautor, Ex-Werbetexter und Connaisseur, mit tadellosem Outfit und gepflegten Umgangsformen – dort der unstete, hibbelige, stets etwas vorlaute It-Boy der Popliteratur und derangiertes Enfant terrible, mit unrühmlicher Drogen- und Bulimievergangenheit. Ein ungleiches Paar, das sich bestenfalls missverstehen, schlimmstenfalls um Kopf und Kragen reden kann?

Sechzehn Themen haben sich aus ihrem ursprünglich absichtslosen Geplänkel herauskristallisiert: von »Arbeit« bis »Wiedersehen«, von »Badehosen« bis »Verliebt«, auch »Glitzer«, »Fotos«, »Geldscheine«. Ein prominentes Stichwort mit C ist glücklicherweise nicht darunter. Die Gespräche changieren zwischen banalen Plattitüden und intellektuellem, pointiertem Schlagabtausch. Wobei sich Suter, der die bedachtsame Langsamkeit des Schweizers fast schon ironisch kultiviert, eher als kluger Stichwortgeber versteht. Und Stuckrad-Barre, der hemmungslose Schwadroneur, aufgeputscht jedes Gedankenfitzelchen aufgreift und überdreht weiterspinnt.

Verspielte Selbstinszenierung

Von einer gemeinsamen Schnittmenge ausgehend, driften die Welten der beiden zuweilen maximal auseinander. Das Kapitel »Badehosen« vereint zwar noch die modischen Fehltritte, in denen die Herren beim Kennenlernen am Pool stecken (Stuckrad-Barre angeblich in einem türkisfarbenen Modell mit Flamingos, Suter in einem neonorangen – doch halt: Ist er überhaupt jenseits eines gepflegten Dreiteilers mit Einstecktüchlein vorstellbar?). Als man beim freien Assoziieren dann bei diesen geschmacklos beigen Sportjacken älterer Herren landet, spricht Suter nonchalant vom »Lumber« und Stuckrad-Barre stöhnt gequält auf: »Aha. Oh. Modehospiz.« »Hochzeiten« wiederum hält er für »ein großes Bohei, eigentlich so, als würde man Instagram mittels eines 3-D-Druckers in die Wirklichkeit konvertieren«, während sich Suter in Toleranz übt.  Zu »Äähm« fällt Suter das nachgestellte Schweizerdeutsche »oder?« ein, indes Stuckrad-Barre sinnierend folgert: »Ist Äahm denn die Gelenkflüssigkeit des Denkens oder ist es die Simulation von Denken?«

Als Simulation eines Gesprächs könnte Alle sind so ernst geworden auf jeden Fall durchgehen. Das »konzeptionslose Gelaber« und »antiehrgeizige Reden« (Stuckrad-Barre) schweißt die beiden Dandys dann doch erstaunlich freundschaftlich zusammen. Allerdings lässt sich für den Preis dieses zweitverwerteten ehemaligen Podcast bei Diogenes durchaus Substanzielleres erwerben. Doch die Lektüre des Überraschungscoups macht einfach gute Laune, wie ein verbotener, dekadenter Genuss. Kann man sich in ernsten Zeiten schon mal leisten.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Martin Suter, Benjamin von Stuckrad-Barre: Alle sind so ernst geworden
Zürich: Diogenes 2020
258 Seiten, 22 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Robert

Nächster Artikel

Null Bock auf Maske?

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Ramses IX.

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ramses IX.

Ramses lächelte. Wie abenteuerlich, sich in fremden Gegenden und Kulturen herumzutreiben und einen Eindruck von den Menschen zu gewinnen, durchaus interessant, gewiß, die Kultur der Industriegesellschaft ist hochentwickelt, außerordentlich leistungsbezogen, auch wenn sie seit lediglich zwei Jahrhunderten besteht. Unmengen von Menschen bevölkern den Planeten, das würde ihm niemand glauben, und für sie muß gesorgt werden, da nimmt die Verteilung auch urwüchsige Züge an, der zivilisatorische Standard droht zu kippen, das wird man verstehen.

Auf der Suche nach Robinson Crusoe

Kurzprosa | Jonathan Franzen: Weiter weg 21 recht unterschiedliche Texte vereinen sich in Jonathan Franzens Essayband Weiter weg, und doch verbindet sie fast alle etwas miteinander – die Gedanken an den 2008 verstorbenen Freund und Autor David Foster Wallace. Aber auch die Liebe spielt eine Rolle, die Liebe zur Literatur, zu einer Frau oder zu Vögeln (Franzens große Leidenschaft). Der Autor gewährt tiefe Einblicke und lädt ein, über sich und das Leben zu reflektieren. Von TANJA LINDAUER

Same procedure as every year?

Literaturkalender 2017 2016 geht langsam zur Neige, doch zu den stimmungsvollen Ritualen des ausgehenden Jahres gehört das Stöbern und Sichten, Kaufen und Verschenken neuer Kalender. Besonders hoffnungsfroh gestaltet sich der Ausblick auf die kommenden Monate mit ausgewählten Literaturhäppchen und poetischen Gedichtzeilen.Von INGEBORG JAISER

Dabeisein

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Dabeisein

Wie es sich anfühle, fragte Bildoon, am eigenen Untergang teilzunehmen.

Vergiß es, sagte Touste.

Blöde Frage, sagte Crockeye, als Seemann bin ich jederzeit darauf gefaßt, daß mein Schiff sinkt und ich mit, da fühlt sich nichts an.

Bildoon spricht nicht von der Seefahrt, sagte Pirelli.

Sondern, fragte Rostock.