/

Dabeisein II

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Dabeisein II

Wie es sich anfühle, fragte Bildoon, am eigenen Untergang teilzunehmen.

Vergiß es, sagte Touste.

Unangenehm vielleicht?, spottete Crockeye.

Tödlich?, schlug lachend der Zwilling vor.

Mental, sagte Bildoon, wie es sich mental anfühle, dazu habe niemand etwas gesagt.

Er werde davon nichts merken, sagte Pirelli.

Wie das, fragte Bildoon.

Es werde sich ja nicht um eine Exekution handeln, sagte Pirelli, um ein Event, angekündigt etwa, mitsamt Gigs und vor Publikum.

Nicht?, spottete Crockeye.

Sondern, fuhr Pirelli fort, um einen schleichenden Prozeß, gleichsam um eine Vergiftung, die sich unbemerkt anbahnt, die im Organismus Fuß faßt und längst unverrückbare Wurzeln geschlagen hat, bevor äußere Symptome auftreten, der Organismus wird nach und nach stillgelegt.

Der Ausguck erhob sich schweigend und wurde nach wenigen Schritten von der Dunkelheit verschluckt.

Thimbleman starrte in die Glut.

LaBelle blickte hinaus zur Lagune.

Eldin faßte sich an die Schulter, der Schmerz ließ von Tag zu Tag leicht nach.

Wie er sich fühlt, wiederholte London, gut möglich er ahnt etwas, ihm ist mulmig zumute, ein ungutes Gefühl, ohne daß er wüßte weshalb, er wird mißtrauisch, er beobachtet die Umgebung, ob es Signale gebe, daß etwa ein Erdrutsch droht oder ein heftiger Regenguß oder einfach ungewöhnliche Erscheinungen, und er nimmt unversehens Abläufe wahr, die ihm zuvor nie aufgefallen waren, Selbstverständlichkeiten, über die nachzudenken kein Anlaß bestanden hatte und die sich seit neuestem wechselhaft zeigten, heftige Temperatureinbrüche vielleicht, ungewöhnliche Trockenheiten, extreme Stürme, Überflutungen, weshalb, gibt es Anlaß zu Sorge, zu praktischer Vorsorge, überlegt er, seien etwa Unglücksfälle auf menschliche Ursachen zurückzuführen, und wie lasse sich eingreifen.

Wie wird er sich fühlen, sagte Pirelli, er wird Schäden feststellen, wird Hand anlegen, helfen, tätig werden, das ist was er kann, doch wie er sich fühlt, er blickte Bildoon an, bestenfalls werde er mit anpacken, nicht anders als sonst auch, er fühlt sich in seinem Element, er ist tätig.

Ist das die Antwort, die du erwartest, Bildoon, fragte London.

Sie hörten den Ausguck einige Schritte Anlauf nehmen und einen Salto schlagen.

Eldin faßte sich an die Schulter, der Schmerz ließ von Tag zu Tag leicht nach.

Thimbleman starrte in die Glut.

LaBelle blickte hinaus in die Lagune.

Der Ausguck schälte sich aus der Dunkelheit und setzte sich wieder.

Ob der Ausguck dieses Herumhüpfen nötig habe, überlegte Rostock, und wofür es gut sei. Jedenfalls sei es eine elegante Übung, das wäre er zu konzedieren bereit, nur daß sie bei Nacht niemand sähe, da sei sie doch für die Katz.

Was mit dem Schlammvulkan sei, fragte Harmat.

Ob der ein Beispiel für Symptome der erschöpften Natur sei, fragte Rostock.

Und überhaupt noch existiere, ergänzte Bildoon, man höre und lese nichts davon.

Die Nachrichtenagenturen der Industriegesellschaften hätten kein Interesse daran, es handle sich um einen jener Unglücksfälle, die man vorzugsweise aus dem öffentlichen Gedächtnis streiche, sagte LaBelle.

Auf Java, fragte Crockeye.

Seit 29. Mai 2006 sei dort ein Schlammvulkan aktiv, erklärte Pirelli, Unmengen an heißem Schlamm würden aus einer Öffnung gespuckt und verteilten sich über ganze Landstriche und in einen Fluß, der Teile des Schlamms bis in seinen Mündungsbereich spüle, der Ausbruch habe vierzigtausend Menschen vertrieben.

Lange Zeit war umstritten, ob ein schweres Erdbeben oder eine Ölbohrung in dem Bereich den Ausbruch ausgelöst hätten. Ein internationales Geologenteam der Universität Adelaide analysierte im Jahr 2015 relevante Daten – beispielsweise den Gasausstoß vor und nach dem Erdbeben – und fand keinen Hinweis auf eine Verbindung zwischen dem Beben und dem Blow-out, folglich sei allein die Bohrung als Ursache anzunehmen.

Derzeit strömten etwa achtzigtausend Kubikmeter pro Tag aus dem Schlammvulkan und damit nicht mehr so viel wie zu Spitzenzeiten, sagte er, da seien es hundertachtzigtausend gewesen. Warum der Ausbruch so lange andauere, sei nicht bekannt, nein, eine Verbindung zu einem benachbarten Vulkan könnte ihn so lange am Leben erhalten, der Ausbruch könnte nach Ansicht vieler Geologen noch Jahrzehnte anhalten.

Thimbleman starrte in die Glut.

Der Ausguck überlegte.

Ein Schlammvulkan, wußte London, war keine singuläre Erscheinung, nein, es gab ihn auch anderenorts, der Planet kotzte sich aus, wen könnte das wundern, nur die Dimensionen des Lusi waren kraß, waren ohne Beispiel.

LaBelle blickte hinaus in die Lagune.

Eldin faßte sich an die Schulter, der Schmerz ließ von Tag zu Tag leicht nach, Schulter ist ein sensibles Gelenk.

Die Gegend um Sidoarjo sei vom Strom- und Versorgungsnetz abgeschnitten, ein Gebiet von zehn Quadratkilometern über Jahre hinaus nicht nutzbar. Sechshundert Lastwagen hätten über zwei Millionen Kubikmeter Erde heran transportiert, überall in der Region seien Wälle und Dämme aufgeschüttet, doch die Barrieren böten keinen Schutz, sagte Pirelli, sie würden von den unaufhörlich steigenden Schlammassen überflutet oder unterhöhlt und brächen ein. Um den Krater sei in weitem Umkreis ein Damm errichtet, im dadurch abgegrenzten Bereich stehe der Schlamm vierzehn Meter hoch.

Unvorstellbar, sagte Bildoon.

Thimbleman starrte in die Glut.

Der Ausguck überlegte.

LaBelle blickte hinaus in die Lagune.

Eldin faßte sich an die Schulter, der Schmerz ließ von Tag zu Tag leicht nach, Schulter ist ein sensibles Gelenk.

| WOLF SENFF

Weiterlesen: https://titel-kulturmagazin.net/2021/02/07/titel-textfeld-wolf-senff-dabeisein/

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Freunde fürs Leben

Nächster Artikel

Mäuse statt Schnäppchen

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Kartenhaus

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Kartenhaus

Wie ein Kartenhaus also, nein, nicht sicher, sagte Tilman, für einen Kollaps  ließen sich verschiedene Szenarien ausmalen, der Kollaps könne sich hinziehen.

Farb schmunzelte. Da lebe jemand, spottete er, seinen latenten Zynismus aus.

Interessant, sagte Annika und schenkte Tee ein, Yin Zhen, sie hatten das Ming-Service aufgedeckt, rostrot, seit einigen Tagen besaßen sie es auch für drei Personen mit einem lindgrünen Drachen, lieb und teuer, Farb hatte ein Blech Pflaumenkuchen gebacken, für alles war gesorgt, das Wetter meinte es gut, Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Dialog

TITEL-Texfeld | Wolf Senff: Dialog

Kann sein es ist gar nicht lebensnotwendig, die zehntausend Dinge zu verstehen.

Gut möglich.

Und der Mensch – in der Lage des Tausendfüßlers, der, gefragt, wie er seine zahllosen Beine so tadellos organisiert, nachzudenken beginnt, innehält und aus dem Tritt kommt – strengt sich an, sie zu verstehen, er analysiert, er forscht, und er ist im Begriff, eine Zivilisation mit in den Abgrund zu reißen.

Denkbar.

Der Grauwal findet sich blind zurecht in den wechselhaften Regionen des Planeten, niemand muß ihm den Weg zu den Lagunen der Baja California weisen, keine Seekarte, kein GPS, und er zieht jedes Jahr zu Tausenden auf seine kräftezehrende Reise nach Süden und kehrt im Spätsommer zurück in den Norden.

Leben und Mythos

Kurzprosa | Kenzaburô Ôe: Licht scheint auf mein Dach »Ich muss zugeben, dass wir manchmal, besonders ich, die Wut über unseren behinderten Sohn nicht unterdrücken konnten«, heißt es im schonungslos offenen, autobiografischen Band ›Das Licht scheint auf mein Dach‹ (2014) aus der Feder des Literatur-Nobelpreisträgers Kenzaburô Ôe. Er beschreibt darin, wie die Geburt seines Sohnes Hikari sein Leben veränderte, wie er gemeinsam mit seiner Frau vor der schwierigen Frage stand, einer komplizierten Kopfoperation zuzustimmen. Heute ist Hikari Oe über 50 Jahre alt und in Japan ein angesehener Komponist klassischer Musik. Zum 80. Geburtstag des Literatur-Nobelpreisträgers Kenzaburô Ôe am 31. Januar

Am Ende alles gut

Roman | Helga Schubert: Vom Aufstehen

Helga Schubert ist eine deutsche Schriftstellerin und Psychologin. In den 29 autobiographischen Erzählungen des Bandes Vom Aufstehen zieht sie ein breit angelegtes Fazit ihres 80-jährigen Lebens: Sie berichtet darin persönliche Erinnerungen an ihre Großeltern und Eltern ebenso wie Erlebnisse aus ihrer Zeit als Schriftstellerin in der DDR oder aus der Zeit der Wende, in der sie sich in der Kirche engagierte. Von FLORIAN BIRNMEYER

Der Meister des Film noir

Kurzprosa | Christoph Haas: Eine Nacht im Juli, eine Nacht im Dezember

In den kurzen Geschichten scheint ein romantischer Grundton mitzuschwingen, eine Sehnsucht, der Blick auf etwas Vertrautes – eine erste Stimmung, die jedoch nach wenigen Zeilen bereits wieder durchbrochen wird. Der kleine Band mit Erzählungen von Christoph Haas Eine Nacht im Juli, eine Nacht im Dezember sammelt alltägliche Szenen, die es in sich haben. Nichts Dramatisches und Extravagantes, aber dennoch gibt es kleine Unregelmäßigkeiten in der scheinbaren Normalität. Ein bemerkenswertes Debüt findet HUBERT HOLZMANN