//

Die Maus

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Die Maus

Er erinnere sich an die Kleine Fabel jenes Versicherungsangestellten aus Prag, sagte der Pharao, in der eine Maus in eine ausweglose Situation gerate.

Es war spät geworden, die Walfänger saßen um das verklingende Feuer, die Ojo de Liebre war rundum in schwärzeste Nacht getaucht, von fernher rauschte das Meer, die Temperaturen waren mild, vor einigen Minuten war Termoth mit seinen Leuten zur ›Marin‹ aufgebrochen.

Ein Versicherungsangestellter?, fragte Harmat.

Zwanzigstes Jahrhundert, erklärte London, man könne sich gegen Risiken versichern, auch eine Fracht könne gegen Havarie oder andere Unglücksfälle finanziell abgesichert werden.

Dem Versicherungsangestellten sei Ramses II. während eines Besuchs der Großen Mauer begegnet, sagte Ramses IX., ein Zufall, doch von dieser Begegnung sei vielfach berichtet worden, sensationell, der Versicherungsangestellte habe die Arbeit an einem Amerika-Roman beiseite gelegt, hieß es, und einen Ägypten-Roman beginnen wollen, doch dazu sei es leider nicht gekommen.

Was es mit der Maus auf sich habe, fragte LaBelle.

Von welcher Maus die Rede sei, wollte Crockeye wissen und richtete sich auf.

Thimbleman hielt Ausschau nach dem Ausguck und überlegte, zur ›Boston‹ aufzubrechen, den Ausguck schien die Nacht verschluckt zu haben.

Es lohne, sagte Ramses IX., die Texte des Versicherungsangestellten zu studieren, und er bedaure außerordentlich, daß dessen Ägypten-Roman nicht realisiert worden sei, der Versicherungsangestellte sei allzu früh verstorben.

Der Ausguck schälte sich aus der Dunkelheit und setzte sich.

Er habe einen Salto geschlagen, sagte LaBelle.

Das tue er häufig, sagte Thimbleman.

Von welcher Maus die Rede sei, wiederholte Crockeye.

Es handle sich um eine Parabel, sagte Ramses, von einer Maus, die auf einem Weg entlanglaufe, der schmaler und schmaler werde, und sie werde von einer Katze verfolgt, die ihr zurufe, sie bräuchte lediglich die Richtung zu wechseln, der Versicherungsangestellte, ergänzte Ramses, habe eindrucksvolle Parabeln verfaßt, sie ließen sich erhellend auf Situationen des Lebens übertragen, zum Beispiel auf die des Menschen der Moderne, fügte Ramses hinzu und blickte auf, die Moderne, erklärte er, breche soeben an.

London erschrak.

Der Rotschopf schnob verächtlich.

Pirelli rümpfte die Nase.

Rostock fielen die Augen zu, so müde war er.

Gramner gähnte und legte einen Scheit Holz in die Glut.

Es sei tiefe Nacht, mahnte er.

Dieser Pharao war eine wunderliche Figur, seine Existenz blieb Gramner ein Rätsel, zart wie eine Frau, zerbrechlich, seine Schritte fast tänzelnd, was verschlug solch eine Person in diese Einöde, er besäße nicht einmal hinreichend Kraft, eine Harpune zu werfen, was suche er beim Walfang, er redete und redete, und trotz allem fügte er sich zur Mannschaft, erstaunlich, seine Stimme war hell, die Männer waren schläfrig, nur wenige hörten aufmerksam zu, vielleicht daß ihnen die Stimme gefiel, es kommt vor, daß eine Stimme fasziniert.

Die Moderne, wiederholte Ramses IX., breche soeben an, bereits ihr Name sei trügerisch, sei ein PR-Design, die Goldgräber in der Stadt Frisco, die Neunundvierziger von Sutters Mühle, sie etablierten das weltweite Exempel einer Zeitenwende, eine Zäsur, von wohlüberlegten Abläufen könne jedoch keineswegs die Rede sein, versteht ihr, die Männer seien verblendet vor lauter Gier, ihr Leben kenne allein eine Richtung, sie seien von Sinnen, der Mammon treibe sie an, nein, modern sei das gewiß nicht.

Die Maus, erinnerte Crockeye.

Ob die Moderne jetzt beginne, fragte Harmat.

Die unüberwindlichen Mauern rechts und links trügen die Aufschrift ›Fortschritt‹ und ›Wachstum‹, erklärte Ramses IX. und fand Gefallen an dem Gespräch, die Maus sei schneller und schneller gelaufen, sagte er, sie merkte von keiner Gefahr, sondern fühlte sich prächtig, so stolz auf ihr rasantes Tempo, nein, weshalb sollte sie die Richtung ändern, sie würde unerreichte Rekorde verzeichnen, es ginge unablässig voran.

Eine Einbahnstraße, fragte Harmat.

Weshalb sie sich dennoch umgewandt habe, fragte Gramner nach, und ob sie irritiert gewesen sei aufgrund der Wände, die von rechts und links mächtig auf sie zu wuchsen, ob sie die Bedrohung nicht doch gespürt habe, zumindest seitens der Katze, nein, der Versicherungsangestellte hüllt sich in Schweigen und widerspiegelt, versteht ihr, eine scheinbar unentschiedene Situation jener Moderne, so als ob man eine Wahl hätte, und mahnende Stimmen würden ausnahmslos ignoriert.

Ramses IX. lächelte. Wenngleich die meisten Männer nicht mehr zuhörten, war es doch angenehm, in dieser gottverlassenen Einöde einer verwandten Seele zu begegnen, diesem Gramner, das hätte er sich nicht träumen lassen, einem Walfänger, er hätte gern mehr über die Walfängerei gewußt und würde sich in den nächsten Tagen an ihn wenden.

Die Katze, wie das mit der Katze ausgegangen sei, wollte Crockeye wissen.

Was sei bloß mit Crockeye, fragte sich Thimbleman, man kenne ihn sonst als Nervensäge.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Klimawandel: Wann, wo und wie?

Nächster Artikel

Ein Küken auf Selbstfindung

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Meisterhafte Erzählungen

Kurzprosa | Ralf Rothmann: Hotel der Schlaflosen

Ralf Rothmann, geboren 1953 in Schleswig, erhielt für seine literarischen Werke zahlreiche Literaturpreise. Er hat sich durch Romane mit Schauplatz im Ruhrgebiet und in Berlin sowie durch Erzählungen hervorgetan. Sein neuester Erzählband Hotel der Schlaflosen versammelt elf Erzählungen von unterschiedlicher Länge, die an den verschiedensten Orten und zu verschiedenen Zeiten spielen. Von FLORIAN BIRNMEYER

Irrtum

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Irrtum

Das Leben ist nicht, was es zu sein vorgibt.

Tilman rückte mit dem Sessel näher zum Couchtisch und suchte eine schmerzfreie Sitzhaltung einzunehmen.

Wir leben im Irrtum.

Farb warf einen Blick hinüber zum Gohliser Schlößchen, das unter blauem Himmel im milden Schein der Nachmittagssonne sanft glänzte. Er stand auf und zog die Terrassentür auf, es war ein angenehmer Apriltag, aber noch zu frisch, um draußen zu sitzen.

Es ist an der Zeit, auf die Bremse zu treten.

Schwierig. Wo willst du anfangen, Tilman?

»Surrealism to me is reality«

Kurzprosa | John Lennon: In seiner eigenen Schreibe (Zum 30. Todestag) Skurrile Non-Sense-Texte, anspielungsreiche Gedichte, groteske Comedy – John Lennons In seiner eigener Schreibe ist eine Sammlung des Andersartigen, Herausstechenden, manchmal durchaus Provozierenden. Auch noch nach fast 50 Jahren. Von HUBERT HOLZMANN

Eine Brache am Stadtrand

Kurzprosa | Judith Hermann: Lettipark Vor 18 Jahren hat sie mit ihren Debüterzählungen Sommerhaus, später gleich einen grandiosen Erfolg gefeiert. Der Band avancierte zum Bestseller – und der Name Judith Hermann galt fortan beinahe als Synonym für das Phänomen »Fräuleinwunder«. Als »Stimme ihrer Generation« wurde die Berlinerin gefeiert und ihren Texten ein »unwiderstehlicher Sog« attestiert. Vor zwei Jahren legte sie ihren mit großer Spannung erwarteten ersten Roman ›Aller Liebe Anfang‹ vor – ein unspektakuläres, etwas langatmiges Buch über eine Frau mittleren Alters, die eine Zwischenbilanz zieht. Nun präsentiert die inzwischen 46-jährige Autorin wieder einen Band mit 17 neuen Erzählungen – ›Lettipark‹

Ramses IX

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ramses IX

Ramses lächelte. Es war abenteuerlich, sich in fremden Gegenden und Kulturen umzutun und einen Eindruck von den Menschen zu gewinnen, durchaus interessant, gewiß, die Kultur der Industriegesellschaft ist hochentwickelt, überlegte er, extrem leistungsbezogen und bestehe doch erst seit zwei Jahrhunderten. Unzählige Menschen lebten auf dem Planeten, und für sie müsse gesorgt werden, da nehme die Verteilung urwüchsige Züge an, das werde man verstehen.