/

Synaptische Turbulenzen

Kulturbuch | Olivia Laing: Zum Fluss

Immer wieder ›Zum Fluss‹ zieht es Olivia Laing. Ihre einwöchige Wanderung entlang der Ouse, von der Quelle bis zur Mündung, gibt Anlass zu geologischen und geographischen Erkundungen, zu poetischen, philosophischen und literarischen Betrachtungen. Ein ausschweifender, viele Sinne streifender Genuss für alle Freunde des »Nature Writing«. Zugleich ein sehr persönliches Buch, das dem Leser die Augen öffnet und die Sinne schärft. Von INGEBORG JAISER

Laing - Zum FlussAn den Flüssen liegt die Wiege unserer Zivilisation, denken wir an Euphrat und Tigris, Jordan und Nil. Sie bewegen sich durch Raum und Zeit, prägen das Leben, Handeln und Träumen der Menschen. Literatur über die großen, bedeutsamen Ströme dieser Welt – Amazonas, Mekong und Mississippi, Donau und Wolga – dürften ganze Bibliotheken füllen. Doch wer kennt schon die Ouse, einen eher unbedeutenden Wasserlauf in der englischen Grafschaft Sussex, der in den Eichen- und Haselwäldern bei Haywards Heath entspringt und 42 Meilen weiter in den Ärmelkanal mündet? Einen traurigen, eher dürftigen Bekanntheitsgrad dürfte dieser Fluss nur durch die Tatsache erlangt haben, dass sich darin die Schriftstellerin Virginia Woolf 1941 ertränkt hat, die Manteltaschen mit Steinen gefüllt.

Sommernachtstraum

Fast 70 Jahre später besinnt sich die britische Journalistin, Kulturkritikerin und Essayistik Olivia Laing während einer »dieser kleinen Krisen, die unser Leben in regelmäßigen Abständen heimsuchen« an die Ouse, bei der sie Trost und Zuflucht sucht. Nach dem rasch aufeinanderfolgenden Verlust von Arbeit und Partner beschließt sie, sich auf eine einwöchige Wanderung entlang des Flusses aufzumachen, von der Quelle bis zur Mündung. Just zur Sommersonnenwende, »am Scharnierpunkt des Jahres«, über den ein Aberglaube sagt, »dass die Wand zwischen den Welten dann dünner wird.« Möglicherweise auch die Verbindung zwischen Mensch und Landschaft? Schon erahnt man eine vage verzauberte Kulisse wie in Shakespeares Sommernachtstraum.

Autoren, die anders gestrickt sind als Olivia Laing, hätten wohl einen Befindlichkeitsroman oder einen Wanderführer verfasst. Doch entstanden ist eine vielschichtige, von Querverweisen, Bezügen und Assoziationen überbordende Melange aus Naturbeobachtung, Selbsterfahrung, Spurensuche, Kulturgeschichte, Landes- und Volkskunde, philosophischer Betrachtung und literarischer Hommage. Ein genreübergreifendes Amalgam, das von einem Gedanken Leonard Woolfs inspiriert zu sein scheint: »Alles ist von Bedeutung«.

Auf den Grund gehen

So schöpft Olivia Laing aus dem Vollen und gibt sich während der Wanderung einem assoziativen Gedankenfluss hin. Poetische, geradezu sinnlich verfasste Passagen wechseln ab mit akribisch recherchierten Fakten. Mythologische Erzählungen und tagträumerische Sequenzen von »sonneninduzierten, synaptischen Turbulenzen« gehen über in knallhart aufbereitete Berichte über die Schlacht von Lewes im Jahre 1264 oder die landwirtschaftliche Nutzung des Gebietes.

Wie beiläufig raschelt im Hintergrund das Schilf, steigt ein blassgoldener Vogel in den Himmel auf. Und wir tauchen ein in ein Blütenmeer von Weidenröschen und Zaunwinde. Doch niemals erscheinen die Wasser der Ouse bedrohlich. Viel eher fühlt sich Olivia Laing verführt, unter die Oberfläche zu dringen, abzutauchen, den Dingen buchstäblich auf den Grund zu gehen. Das relativiert auch das Gedenken an Virginia Woolf, die »sich den Ruf einer tristen, trübseligen Autorin, einer blutleeren Neurasthenikerin erworben« hat. Wer sich verleiten lässt, ihre Tagebücher (wieder) zu lesen, wird dort ihre geradezu »ansteckende Liebe zur Natur« entdecken.

Acht Kapitel folgen dem linearen Flusslauf, doch wundersamerweise lässt sich die Lektüre an jeder beliebigen Stelle beginnen – oder fortführen. Ein Glück, dass dieses bereits 2011 in Großbritannien erschienene Buch nun endlich in deutscher Übersetzung vorliegt. Und es bleibt zu hoffen, dass die anderen Werke (›The lonely City‹ handelt vom Alleinsein in Städten, ›The Trip to Echo Spring‹ reflektiert das Zusammenspiel von Alkoholismus und Kreativität) dieser klugen, oft interdisziplinär arbeitenden Autorin nach und nach folgen werden. Doch so lange finden sich in ›Zum Fluss‹ mit seinem umfassenden Literaturverzeichnis noch genügend Anregungen und Inspirationen zu Lektüren, Wanderungen, Beobachtungen.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Olivia Laing: Zum Fluss
Aus dem Englischen von Thomas Mohr
München: btb, 2021
375 Seiten, 20,- Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Unterwegs und trotzdem lecker

Nächster Artikel

Aus dem Reich der Schwärze

Weitere Artikel der Kategorie »Kulturbuch«

Die Macht der Worte

Kulturbuch | Stephen Greenblatt: Die Wende. Wie die Renaissance begann Über die Renaissance ist viel geschrieben worden, aber dieses ist ein Buch, in dem ein Autor einem anderen nachspürt und diesem dann eine sagenhafte Verantwortung in die Schuhe schiebt. Ein Werk soll Ursprung eines neuen Zeitalters sein, wegbereitend für Generationen, bedeutungsschwangere Prophezeiung der intellektuellen Elite. Stephen Greenblatt forschte in Die Wende. Wie die Renaissance begann über eine fast vergessene philosophische Strömung. VIOLA STOCKER ließ sich auf eine sagenhafte Reise ins Herz einer bibliophilen Gesellschaft ein, der es gelang, Worte vor dem Vergessen zu bewahren, die Jahrzehnte später Europas ethisches Grundkonstrukt

Vordenker der Befreiung

Kulturbuch | Pankaj Mishra: Aus den Ruinen des Empires Die koloniale Ausbreitung Europas (und der USA) über die ganze Welt im 19. Jahrhundert mag einem in der Schule oder an der Universität begegnet sein. Die brutale Herrschaftspraxis des Kolonialismus ist aber nirgends Inhalt des Lehrplans. Und schon gar nicht die überaus mühselige politische und geistige Befreiung der farbigen Völker. Der indische Wissenschaftler und Essayist Pankaj Mishra stellt einige der wichtigsten Vorläufer dieser Befreiung in Aus den Ruinen des Empires vor. Von PETER BLASTENBREI

Ästhetik der Gehörlosigkeit

Kulturbuch | Rafael Ugarte Chacón: Theater und Taubheit Das Theater ist nicht nur ein Ort der Kritik, sondern auch ein Ort der Herrschaftsproduktion! Das Theater ist nicht nur ein Ort der Reflexion, sondern auch ein Ort der Hierarchierepräsentation! Ergo werden kontinuierlich diverse soziokulturelle Gruppen durch die Darstellungsformen exkludiert. Der Theaterwissenschaftler Rafael Ugarte Chacón versucht deswegen in seiner Dissertation für die Gruppe der Gehörlosen auszuloten, inwiefern sie vom Theaterbetrieb ausgeschlossen werden und mit welchen theatralen Formen und Methoden man ihnen Zugang gewähren kann. Sein normatives Konzept heißt ›Aesthetics of Access‹. PHILIP J. DINGELDEY hat Ugarte Chacóns Monographie ›Theater und Taubheit. Ästhetiken

Bannerträger des Donaldismus

Kulturbuch | Patrick Bahners: Entenhausen. Die ganze Wahrheit Begründet wurde der Donaldismus im Jahr 1977 durch Hans von Storch als »Deutsche Organisation nichtkommerzieller Anhänger des lauteren Donaldismus« – D.O.N.A.L.D. Der verständnislose Außenstehende vermutet darin eine Verschwörungstheorie, die mit allen erdenklichen Mitteln bemüht ist, eine Comicwelt in der Realität zu verwurzeln. Von WOLF SENFF

Viel mehr als nur ein Klang

Kulturbuch | Jennifer Lucy Allan: Das Lied des Nebelhorns

Dieses Buch ist ein Abenteuer: nicht nur, dass es von einer außergewöhnlichen Doktorarbeit erzählt, wer schließlich würde schon auf die Idee kommen, über Nebelhörner zu promovieren. Das Thema spricht uns alle an. Denn genau das, worum es geht, kennen wir alle, es sitzt irgendwo ganz im Inneren, in Erinnerungen und Empfindungen. Nie war ein Nebelhorn so attraktiv wie auf diesen 304 Seiten, meint BARBARA WEGMANN.