Sommerzeit ist Reisezeit: Ein kleines Mädchen darf ihre Großmutter besuchen, die auf einer Insel mitten im Meer lebt. Aber wie man einen Ort erlebt, hängt von verschiedenen Dingen ab. Von ANDREA WANNER
Die Kleine ist gerne auf der Insel. Das sieht man schon an der freudigen Ankunft, als sie winkend vom Boot der Großmutter entgegenläuft. Die wiederum empfängt sie mit offenen Armen und auch der Hund läuft ihr schwanzwedelnd entgegen. Im Hintergrund ist ein malerisches kleines Dorf zu sehen: ein traumhafter Urlaubsort. Viel Grün säumt den Weg zum Wasser, roter Mohn leuchtet. Es geht an und ins Wasser oder die Enkeltochter kann in der gemütlichen Küche malen und basteln, während die Oma Kuchen backt. Herrlich. Tagsüber zumindest. Denn nachts sieht die Welt ganz anders aus.
Seltsame Geräusche, die sie nicht einordnen kann, beunruhigen dann das Mädchen. Solange beide noch im Wohnzimmer sind, ist das nicht so schlimm. Aber alleine im Bett kann sie es nicht mehr aushalten. Also weckt sie kurzerhand die Oma. Und dann?
Statt nur beruhigender Worte weiß die alte Frau, was wirklich hilft. Gemeinsam gehen die beiden hinaus ins Freie, um dem Unheimlichen auf den Grund zu gehen. Tatsächlich verbirgt sich kein Ungeheuer draußen. Es gibt zahlreiche Tiere, die in der Nacht unterwegs sind. Und wer leise ist, hört sie rascheln und summen, sieht sie fliegen und leuchten.
In zarten gedämpften Aquarelltönen erweckt Malin Widén die nächtliche Insel zum Leben. Das Bedrohliche wirkt nicht länger gefährlich, wenn man an der Hand einer vertrauten Person den Dingen nachgeht. Am Himmel leuchtet der Mond und die Schuppen des Fischs sehen aus wie die goldenen Sterne am Himmel. Keine Gespenster, nichts Furchterregendes lauert im Dunklen. Mit einem Glühwürmchen auf der Schulter und der Taschenlampe in der Hand wagt sich die Enkeltochter sogar, alleine Schätze zu sammeln: ein Blatt, eine Muschel, eine Feder. Alles darf mit nach Hause. Und dort ist es dann auch gar kein Problem mehr, sich gemütlich ins Bett zu kuscheln und zu schlafen.
Die Illustratorin und Kunstvermittlerin mit Wurzeln in der Schweiz und Schweden setzt in ihrem Bilderbuch dem Vertrauten das Neue, Fremde gegenüber, sie kontrastiert Innen- und Außenräume und zeigt, wie ein inniges Großmutter-Enkeltochter-Verhältnis ganz selbstverständlich und unaufgeregt zu Begegnungen führt, die allen guttun.
Sie lässt die kleine Ich-Erzählerin neue Erfahrungen machen und daran wachsen. Ein wunderschönes Bilderbuch, sorgfältig gestaltet und ohne viele Worte.
Titelangaben
Malin Widén: Auf der Insel
Mannheim: Kunstanstifter Verlag 2021
52 Seiten, 22 Euro
Bilderbuch ab 4 Jahren