Vom Zauber der Eiche

Sachbuch | James Canton: Biografie einer Eiche

Wenn uns jemand sagt, er habe das »dramatische Gefühl, eine Eiche plötzlich kennenzulernen«, dann hört man förmlich die Frage im Raum schwingen: »Ist sonst alles in Ordnung mit Dir?« Aber im Ernst: Sich auf dieses ausgefallene Buch einzulassen, das kann geradezu ein Abenteuer und auch sehr erkenntnisreich sein. Es ist wie eine Einladung zur Meditation, zum Betrachten, auf jeden Fall zum Abschalten und Runterkommen und, wer weiß, vielleicht führt es ja auch zu ganz neuen Erkenntnissen. BARBARA WEGMANN hat es gelesen.

Eiche800 Jahre ist sie alt, mächtig und erhaben, über acht Meter Umfang hat sie und 30 Meter hoch ist sie, jene außergewöhnliche Eiche in Essex, die das Herz von James Canton erobert. Zwei Jahre lang besucht er sie regelmäßig, oft Tage hintereinander. Er widmet quasi seine Zeit ausschließlich diesem Baum, ist seinem Zauber erlegen. »Der Baum war noch ein Schössling, als die Magna Charta unterzeichnet wurde und König Johann England regierte. Als Vierhundertjähriger schützte er mit seiner Krone die Soldaten im Englischen Bürgerkrieg. Damals war Sir Thomas Honywood der Besitzer von Marks Hall…« Die beeindruckende Eiche auf jenem Landgut wurde nach ihm benannt. Und jene Honywood Eiche ist die einzige, die überlebte: in den 1950er Jahren wurde ein riesiger Eichenwald rundherum abgeholzt, wegen »seines wertvollen Holzes«.

Canton arbeitet journalistisch, unterrichtet kreatives Schreiben, seine Hommage an diese Eiche ist das erste Buch, das nun auf Deutsch erscheint. Es ist Vieles: eine ganze Sammlung an Beispielen aus Geschichte, Religion, Literatur, Wissenschaft, Mythen und Märchen, wo Eichen überall eine Rolle spielen. Und da kommt Erstaunliches zusammen. »Das Eichenblatt wird auf der ganzen Welt als Symbol verwendet.« Shakespeare, Homer oder Ovid und viele andere Dichter erwähnten die Eiche. »Wird eine Eiche gefällt, so gibt sie eine Art Angstschrei oder Stöhnen von sich, das man meilenweit hören kann, als sei es der Genius der Eiche, der wehklagt«, schrieb John Aubrey im 17. Jahrhundert.

Es dauert gar nicht so lange, ein paar Seiten vielleicht und man wird neugierig. Neugierig zuerst, dann beginnt man zu verstehen, und tatsächlich, wie ein Sog, fasziniert einen im Laufe des Buches die Leidenschaft des Autors. Man beginnt zu verstehen, was Canton meint, wenn er von einer »wahrhaft spirituellen Aura« der Eiche spricht, einem Baum, den es immerhin seit 2,6 Millionen Jahren auf der Erde gibt und der die Verbindung zu unserer Geschichte bildet.

Canton wechselt Stimmung und Schreibstil in seinem Buch. Es sind einerseits die Fakten, Zitate und sachlichen Beschreibungen, die informieren und ein rundes Bild geben. Und dann sind da seine ganz persönlichen und eigenen Gefühle und Empfindungen, denen er offen Raum gibt. »Zum ersten Mal bin ich alleine hier neben dem Baum. Eine Zeit lang tue ich weiter nichts. Ich bin wie erstarrt. Dann strecke ich meine rechte Hand aus, bis ich die Eiche berühre … Mein Herz schlägt langsamer. Mein Geist kommt zur Ruhe … Ein heiliger Frieden senkt sich herab.«

Bis in Details beschreibt er das vielfältige Tier- und Pflanzenleben rund um und in der Eiche. Er erzählt von Eicheln und Eichelmehl, von Tierhäuten, die mit Tannin aus Eichenrinde behandelt, von Eichenplanken, die dann zu Stegen durch Moor und Sümpfe wurden, von Kanus aus Eichenstämmen. Und schließlich: »Holzkohle aus Eiche machte es den Menschen möglich, sich über das Steinzeitleben hinaus zu entwickeln.«

Es sei eine »tiefgründige Meditation über das menschliche Bedürfnis nach Verbindung mit der Natur«, so Peter Wohllebens Kommentar zu diesem Buch, jenem Bestseller-Autor, der ja der Baumkenner schlechthin ist. Und ähnlich wie Wohlleben will auch Canton mit seinem Buch sensibilisieren für einen bewussteren Umgang mit der Natur, schließlich »geht mit jedem einzelnen alten Baum, der verloren geht, eine ganze Waldgemeinschaft unter.«

Irgendwann übrigens, so schreibt Canton so sympathisch offen, habe er aufgehört, die alte Eiche zu besuchen. »Erst vor Kurzem habe ich erkannt, woran das lag. Ich hatte mich wieder verliebt.«

| BARBARA WEGMANN

Titelangaben
James Canton: Biografie einer Eiche
Was alte Bäume uns lehren (wenn wir nur langsam genug zuhören)
Übersetzungung von Sofia Blind
Köln: DUMONT Verlag 2021
208 Seiten, 22,00 Euro
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