//

Hineinsehen in das, was zwischen den Menschen abläuft

Bühne | ›Der Trafikant‹

Unheilvolle Momente, die einen förmlich erzittern und erbeben lassen, wechseln sich ab mit denen, in denen man einfach Sym- und Empathie für den Protagonisten empfindet. Franz Huchel (überzeugend, gefühlvoll und realitätsnah: Nicolas Martin) als ›Der Trafikant‹ im Schauspiel von Robert Seethaler am Theater Pforzheim durchlebt einerseits seine ersten Phasen der Liebe, Sexualität und seines Arbeitslebens. Gleichzeitig erlebt er hautnah in Österreich die Phase der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten mit. Eine Bewährungsprobe. Von JENNIFER WARZECHA

Besonders eine Szene, innerhalb derer dem Zuschauer auf sarkastische Art und Weise vorgeführt wird, wie manipulativ in erschreckender Form die SS-Oberen auf die Menschen eingewirkt haben, lässt einen erschauern. Ein Tänzer (David Meyer) führt in Form einer Hitler-Parodie die Folgsamkeit der Menschen, die brav den Anweisungen des Nazi-Regimes gefolgt sind, ad absurdum. Franz Huchel folgt den Anweisungen seines Trafikanten Otto Trsnjek (charakterstark und überzeugend: Lars Fabian). Dabei erlebt er aber auch mit, wie sich die Nazi-Herrschaft im Staat schließlich und schlussendlich entfaltet. Er selbst stellt sich schützend vor seinen Chef, dem vorgeworfen wird, dass er als »Judenfreund« Juden Schmuddelhefte verkaufe.

Otto Trsnjek wird von den SS-Männern (überzeugend hinsichtlich ihres kühlen Kalküls: Bernhard Meindl, David Meyer und Kai Friebus) abgeführt. Als Ausrede kommt Franz Huchel zu Ohren, er sei herzkrank gewesen. In Form eines Päckchens bekommt er dessen restliche Hinterlassenschaften zugeschickt. Seine Hose hisst Franz an Ottos Krücke auf, quasi als Zeichen seines Widerstandes. Letztendlich fällt er wie sein Trafikant und auch Sigmund Freud im Stück (überzeugend und souverän: Jens Peter) dem Nazi-Regime zum Opfer.

Liebe und Leidenschaft

Gerade mit Sigmund Freud verbinden ihn interessante Begegnungen mit Diskussionen über die Libido, Begierden, das Loslassen bzw. Sich-Annähern an den anderen. Dass die Liebe quasi gar nicht gelingen könne, stellt der Psychoanalytiker, der im realen Leben an Gaumenkrebs litt und an einer Überdosis Morphium gestorben ist, die ihm sein Arzt verschrieb nach Franz Huchels Annäherungsversuchen an Anezka (auch in der Rolle als kleine Dame und Studentin überzeugend, pfiffig und frech: Johanna Miller) fest. Diese verführt ihn kokett und gekonnt, verschwindet dann aber wieder und wird die Frau eines der SS-Oberen. Mit seinen Sehnsüchten lässt Anezka Franz alleine. Er sinniert auf der Bühne vor sich hin oder unterhält sich mit Sigmund Freud.

Auch mit seiner Mutter führt er einen Briefwechsel durch. In vertauschten Rollen sprechen beide abwechselnd die Botschaft des anderen. Der Zuschauer erhält weitere Einblicke in Franz Huchels Erwachsen-Werden. Durch die wechselseitige Perspektive gewinnt der Zuschauer einen Einblick in die Perspektiven und Beobachtungen des jeweils anderen. All dies gewährt einen umfassenden Einblick in die gesellschaftlichen Vorgänge in einem zerstörerischen System, aber auch in diejenigen, die direkt davon betroffen sind. »Mein Sehen ist eher ein Innerliches« wird der Schriftsteller Robert Seethaler zitiert.

Bühnenszene aus dem Trafikant

Durch eine Sehbehinderung und mehrere Augenoperationen verlagerte er sein Sehen mehr hin auf das, was zwischen den Menschen passiert. »Menschen kann ich für mich genauer erfassen, wenn ich sie nicht ansehe.« Dies ist ihm in diesem Stück, unterstützt durch die grandiose Leistung der Schauspieler hervorragend gelungen! Einfach klasse, trotz des ernsten Grund-Themas.

| JENNIFER WARZECHA

Titelangaben
Stadttheater Pforzheim
Der Trafikant
Schauspiel nach dem Roman von Robert Seethaler
Franz Huchel — Nicolas Martin | Kai Friebus
Seine Mutter | Cellospiel — Michaela Fent
Otto Trsnjek — Lars Fabian
Sigmund Freud — Jens Peter
Anezka | Kleine Dame | Studentin — Johanna Miller

Inszenierung – Sascha Mey, Bühne – Jörg Brombacher
Video – David Brombacher, Kostüme – Milena Keller
Dramaturgie – Ulrike Brambeer

Dauer: ca. 2h 25 Min, Pause nach ca. 1h 10 Min
Stückeinführung 20 Minuten vor Vorstellungsbeginn im Foyer

Weitere Termine:
Sa. 30.10.2021, Beginn: 19:30 Uhr; So. 07.11.2021, Beginn: 15:00 Uhr; Di. 16.11.2021, Beginn: 20:00 Uhr; So. 12.12.2021, Beginn: 15:00 Uhr; Do. 06.01.2022, Beginn: 20:00 Uhr; Fr. 07.01.2022, Beginn: 19:30 Uhr; So. 16.01.2022, Beginn: 19:00 Uhr; Di. 25.01.2022, Beginn: 20:00 Uhr; Mi. 09.02.2022, Beginn: 20:00 Uhr

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Die Kunst der anderen 50 Prozent

Nächster Artikel

Gegen den trüben Herbst

Weitere Artikel der Kategorie »Bühne«

Eva war zuerst da – wer denn sonst?

Bühne | Comedy: Cavewoman Tom flieht aus der gemeinsamen Wohnung. Heike wartet den gesamten Abend auf ihn, würde es jedoch nie zugeben. Ob er zu seiner Liebsten zurückkommt? Amüsant und kein bisschen hektisch macht sie aus der Not eine Tugend und gibt den »zu früh eingetroffenen Hochzeitsgästen« (Zuschauern) praktische Tipps zur Haltung und Pflege eines Mannes! Lachen erwünscht. ANNA NOAH wirft einen vergnüglichen Blick auf das Zusammenleben »moderner« Männer und Frauen.

Abgesagt: Franco Berardi

Literatur | Festival »Poetische Quellen« Ohne dass es der Öffentlichkeit hinreichend präsent wäre, existiert hierzulande eine lebhafte Szene von Literaturfestivals, eines davon das jährlich in Ostwestfalen-Lippe in Bad Oeynhausen und Löhne veranstaltete internationale Literaturfest »Poetische Quellen«: vier Tage Literatur stets am letzten vollen Augustwochenende, diesmal: ›Der Platz des Menschen – Wirklichkeiten, Wahrheiten, Illusionen‹. Von WOLF SENFF

Mauern wachsen, Mauern fallen

Bühne | Ballett: Beethoven. Unerhört. Grenzenlos

Als ein Stück, »das ständig im Werden ist«, stellen es Dramaturgin Alexandra Karabelas, Guido Markowitz, Ballettdirektor am Theater Pforzheim, und Pastoralreferent Tobias Gfell der Katholischen Kirche Pforzheim beim »Theologischen Café« in der Auferstehungskirche dem Publikum vor. ›Beethoven. Unerhört. Grenzenlos‹ heißt das Tanzstück von Guido Markowitz und Damian Gmür, bei dem im wahrsten Sinne des Wortes Mauern eingerissen werden. Nicht nur das: Soundkompositionen und -scapes von Fabian Schulz und Travis Lake sowie bildlich ausgetragene Emotionen innerhalb zwischenmenschlicher Beziehungen machen das Ganze zu einem unvergleichlichen Erlebnis. Von JENNIFER WARZECHA

Leben – komprimiert auf 60 Minuten

Bühne | Die Uhr tickt – Timpul trece (Badisches Staatstheater Karlsruhe) Was kann besser sein, als sich mit ernsten Themen wie denen von Leben, Älterwerden und Tod in einem interaktiven Rahmen der Selbstbestimmung auseinanderzusetzen? Diese Themen zeigt die Kooperation von Schauspielern, Moderatoren und Zuschauern im Stück »Die Uhr Tickt«. Von JENNIFER WARZECHA

»Wir haben doch noch uns«

Bühne | Hans Fallada: Kleiner Mann – was nun Was gibt es Schöneres als ein junges Glück? In Zeiten der Not erwärmt es einem das Herz, doch das Geld darf nicht ausbleiben, denn sonst hat der Muckel nichts zu essen. Von MONA KAMPE