Vorgruppen haben es in der Regel nicht leicht. Eingeschränktes Zeitfenster bei unausgegorenem Sound und reduzierter Lautstärke, oftmals gepaart mit einem Publikum, welches seiner dem Warten auf den Hauptact geschuldeten Ungeduld durch Pfiffe, Buhrufe und bösartige Bemerkungen Luft macht. Doch es geht auch anders, wie STEFAN HEUER erfahren hat …
Dienstagabend, es ist gegen 19.30 Uhr, als sich der mit stalaktitischen Röhrenlampen ausstaffierte Saal 3 des CCH zu füllen beginnt. Wer genau hinsieht, kann zwei 12jährige Mädchen in Begleitung ihrer Mutter ausmachen. Das restliche Publikum bewegt sich altersmäßig zwischen 30 und 45 Jahren. Männer und Frauen stehen an diesem Abend zwar häufig in Gesprächen zusammen, geknutscht wird jedoch vornehmlich mit den eigenen Geschlechtsgenossen: die ›Erasure‹, ein Kahn, der vor über 20 Jahren seine Jungfernfahrt in die Meere des Elektro-Pop erlebte, hat an diesem Abend den homosexuellen Anker geworfen und im Rahmen seiner ›Light-at-the-End-of-the-World‹-Tour die Hansestadt geentert.
Vince Clarke und Andy Bell laden zu Hofe, und sie können sich ihrer Gefolgschaft sicher sein. Erasure-Fans sind treu, viele schon seit annähernd zwei Jahrzehnten und jeder Tour dabei. Wie nur wenige Bands der 1980er-Jahre haben die beiden Briten ihr Publikum ›mitgenommen‹, haben sich weiterentwickelt, haben sich und ihrer Hörerschaft zwischendurch Pausen gegönnt, um dann immer wieder mit neuem Material auf die Bühne zurückzukehren.
Dass sie dabei in den letzten Jahren keinen Mega-Hit mehr produziert haben, wirkt sich nun positiv aus: Jugendliche, die eben nur diesen einen Hit aus dem Musikfernsehen kennen und das ganze Konzert über nervös und unausgeglichen Lärm veranstalten, weil sie auf eben dieses Lied warten, sucht man hier vergebens. Wer zu Erasure geht, der freut sich auf einen intimen Abend mit dreitausend Fremden.
Um hier endlich die Klammer zu schließen: Ersaure-Fans sind hingebungsvoll, freundlich, aufgrund der Gay-Thematik offen für vieles, und so hat keine Vorgruppe zu leiden. Auch one Two nicht, die das Publikum mit gefälligem Elektro auf Temperatur bringen. oneTwo, die neben der wunderbaren Stimme von Claudia Brücken auch aus dem Instrumentalisten Paul Humphreys (ehemals OMD) bestehen, ernten warmherzigen, anhaltenden Applaus.
Die Leute sind soweit, jetzt soll gefeiert werden – Vince Clarke und Andy Bell lassen sich nicht lange bitten. Wie aus einem Endlosmagazin feuern die beiden ihre Single-Hits ins Volk, einen nach dem anderen: ›Who Needs Love (Like That)‹, ›Victim Of Love‹, ›Ship Of Fools‹, ›Blue Savannah‹, ›A Little Respect‹; bang bang bang, keine Wünsche offen. Unterstützt werden sie dabei von drei stimmgewaltigen Background-Sängerinnen, die sich verdientermaßen relativ häufig im vorderen Scheinwerferlicht sonnen dürfen.
Auch Bell ist bei ausgezeichneter Stimme, der Mischer hat ebenfalls einen guten Tag erwischt. Das Publikum geht mit und feiert auch die eingestreuten, noch nicht so bekannten Lieder des neuen Albums. Die Stimmung könnte nicht besser sein, und Andy Bell bedankt sich auf seine Weise, indem er stolzierend und mit exaltierter Stimme über die Bühne kokettiert, sich teilweise seiner Kleidung entledigt und sämtliche Ansagen und sonstigen Intermezzi in (erstaunlich gutem) Deutsch abhält.
43 Jahre ist er inzwischen alt, aber anzumerken ist ihm das in keinem Augenblick. Beneidenswert fit ist er, er ist ständig in Bewegung, läuft und tanzt und hat zudem noch immer stattliche Oberarme vorzuweisen (und zwar Muskeln, kein schwabbeliges Winkefleisch). Gegen Ende dann ›Sometimes‹ und ›Oh Lámour‹, und spätestens jetzt tanzen auch die, die sich vorher noch zu cool dafür fanden, zu Erasure zu tanzen.
Nach anderthalb Stunden und einen phänomenalen ›Stop!‹ von der Crackers International-EP entlassen Erasure ihre Fans in die Nacht – nicht jedoch, ohne sich schon mal für das nächste Konzert zu verabreden: »Bis dann!«
| STEFAN HEUER
| Foto: David Scheinmann, Erasure – 1992, CC BY-SA 3.0