Fenster zum Bahnhof

Sachbuch | Jaroslav Rudiš: Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen

Er hat zahlreiche, mit Auszeichnungen gewürdigte Romane, Theaterstücke und Hörspiele verfasst, eine Comictrilogie veröffentlicht und die multimedial agierende Kafka Band mitbegründet. Nun legt der mehrfach talentierte Grenzgänger und bekennende Europäer Jaroslav Rudiš mit der ›Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen‹ sein erstes Sachbuch vor, natürlich randvoll gespickt mit literarischen, musikalischen und kulturhistorischen Anleihen. Von INGEBORG JAISER

Das Foto zeigt einen Zugwaggon während der FahrtWenn nur diese blöde Brille nicht wäre. Eine ausgewiesene Sehschwäche hindert Jaroslav Rudiš daran, seinen Wunschberuf zu ergreifen. Dabei entstammt er einer Familie von enthusiastischen Eisenbahnern: Großvater Alois war Weichensteller, Onkel Miroslav Fahrdienstleiter, Cousin Ivan Lokführer. 1972 im »böhmischen Paradies« in Tschechien geboren, reist Jaroslav Rudiš erst einmal mit dem Finger auf der Landkarte, studiert später Germanistik und Geschichte – und sucht sich seine erste Wohnung mit Blick auf die Einfahrtschneise zum Prager Hauptbahnhof.
Auf seiner Toilette steht eine Sammlung von Kursbüchern zur anregenden Lektüre bereit, überm Schreibtisch hängen historische Eisenbahnkarten von 1911 und 1913. Schon jetzt wird klar: Die Eisenbahn ist Jaroslav Rudiš größte Passion.

Europa endlos

Wer nach etlichen Romanen und Theaterstücken hinter Rudiš erstem Sachbuch eine sachlich trockene Gebrauchsanweisung vermutet – eine Anleitung zum Ticketkauf oder eine Erläuterung der Wagenreihung – liegt natürlich falsch. Denn kultivierter, sinnlicher, mitreißender könnte wohl keiner von der Faszination des Zugreisens erzählen. Mit überbordender Lust, genreübergreifend und interdisziplinär, unterlegt von zahlreichen musikalischen und künstlerischen Bezügen zu eisenbahnaffinen Erzählungen, Songs und Bildern.

Man denke nur an ›Trans Europa Express‹ von Kraftwerk oder das Gemälde ›Durch Europa bei Nacht‹ von Egon Schiele, »wo ein Nachtzug durch die schwarzen, kantigen Berge rast. Die Lichter der Dampflokomotive beleuchten die Strecke, und nichts kann den Zug auf dieser Reise aufhalten. Einfach Europa endlos.« Im Hintergrund glaubt man fast, das Schienenrattern zu hören.

Krainerwurst und Kathedralen

In dieser Gebrauchsanweisung nimmt uns der Autor mit auf das Experiment einer vierzigstündigen Zugfahrt quer durch Deutschland oder auf eine total verregnete Eisenbahntour in Belgien. Er schwärmt begeistert vom lukullischen Angebot ländertypischer Bahnhofskneipen und Bordrestaurants: von Gulaschsuppen, Krainerwurst und Schnitzel im »Wirtshaus auf Schienen« bis zum legendären Bier an böhmischen Bahnhöfen.

Erstaunlich kenntnisreich und kundig vermag Rudiš aber auch über die Kathedralen der Eisenbahnkunst, eine Tunnelfahrt durch den Gotthard oder die formvollendete Gestaltung von Zügen zu berichten (wie die wegen ihrer markanten Kurven liebevoll »Bardotka« genannte tschechische Lok der Baureihe 749).

Wenn wundert es, dass Jaroslav Rudiš als »gesellschaftspolitisch engagiertem Europäer« und Verfasser des hochgelobten Romans ›Winterbergs letzte Reise‹ (in der ein hochbetagter Greis mit seinem Krankenpfleger und einem Baedeker aus dem Jahre 1913 durch die Lande tourt), im Herbst 2021 das Bundesverdienstkreuz verliehen wurde.

Sehr zu Recht, denn wie es in der Begründung heißt: »Grenzen können überwunden werden und die Kultur schafft das auch in Pandemiezeiten.« Vielleicht auch mit einer Liebeserklärung an die Bahn.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Jaroslav Rudiš: Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen
München: Piper 2021
252 Seiten, 15,00 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

»Glücklichsein als Regierungs-Programm«

Nächster Artikel

Seth

Weitere Artikel der Kategorie »Sachbuch«

Schöngeist der Belle Époque

Kulturbuch | Julian Barnes: Der Mann im roten Rock

Marcel Proust und Gustave Flaubert, Oscar Wilde und Joris-Karl Huysmans, Edmond de Goncourt und Sarah Bernhardt, dazu ein bunter Reigen an Adligen und Ästheten, an Bigamisten und Bankrotteuren – sie alle bevölkern Julian Barnes neues Buch. Darunter: ›Der Mann im roten Rock‹, ein angesagter Modearzt seiner Zeit mit dem Ruf eines »unverbesserlichen Verführers«, doch auch ein fortschrittlicher, vernunftbegabter Mediziner. Der englische Schriftsteller Julian Barnes zeichnet ein detailreich recherchiertes und klug ausgearbeitetes Porträt einer ganzen Epoche. Von INGEBORG JAISER

Ungewohnte Perspektiven

Gesellschaft | Klaus Hillenbrand: Fremde im neuen Land. Deutsche Juden in Palästina und ihr Blick auf Deutschland nach 1945 Reportagen aus Deutschland nach der Katastrophe des Nationalsozialismus sind nicht allzu selten. Die Berichte, die der Journalist und Zeithistoriker Klaus Hillenbrand in Fremde im neuen Land vorstellt, bieten allerdings höchst ungewöhnliche Durchblicke. Denn sie sind geschrieben von deutschen und deutschsprachigen Juden, die oft nur wenige Jahre zuvor aus ihrer alten Heimat verjagt worden waren. Von PETER BLASTENBREI

Für immer geschlossen

Kulturbuch | 169 Jahre Grotemeyer

Ich habe zunächst überlegt, ob das Buch, das ich vorstellen möchte, nicht zu regional ist, aber: Manchmal liegt im Regionalen ja auch die ganze Welt. Das Kaffeehaus Grotemeyer in Münster, das nach 169 Jahren für immer nun geschlossen bleibt, es steht in der Tradition der alten Kaffeehäuser, die man schnell mit den österreichischen Originalen in Verbindung bringt, es gibt sie aber auch hier, oder besser, es gab sie. Da kommt – so meint BARBARA WEGMANN – schon etwas Melancholie auf.

Zwischen Kladderadatsch und Wischiwaschi

Sachbuch | A.Schomburg / I. Schautz: Der geheime Ursprung der Wörter

Spurensuche, Rätsel, Unterhaltung, etwas lernen: Es ist von allem etwas, was sich auf diesen 176 Seiten versammelt. Eine hübsche, kurzweilige Buchidee und nach der Lektüre, dem Raten, dem Schmunzeln, nimmt man auf jeden Fall etwas mit. So manches, das man im Alltag so selbstverständlich gebraucht und das im Sprachschatz fest verankert ist, bekommt plötzlich ein ganz neues Gesicht. Findet BARBARA WEGMANN