Reise zum anderen Ich

Comic | Lina Ehrentraut: Melek + Ich

Zu einer Dimensionsreise der etwas anderen Art lädt Lina Ehrentrauts ›Melek + Ich‹ ein. Der beim Zürcher Verlag Edition Moderne erschienene Comic verquickt Science-Fiction mit einer queeren Lovestory – und verlegt diese großteils in eine Bar. Von CHRISTIAN NEUBERT

Eine Frau steht einer sitzenden Frau gegenüber, und legt ihre Hände auf deren Bein.Sternenzerstörer zerstören Sterne, Teleporter teleportieren, der Fluxkumpensator fluktuiert: Science-Fiction macht das Unmögliche möglich! Meist genügt es, wenn die Protagonisten entsprechender Erzählungen mit Vokabeln zwischen technisch, kryptisch und futuristisch jonglieren oder, noch einfacher, es schlicht behaupten.

Mehr als eine Behauptung nebst weniger Striche genügen auch Lina Ehrentraud, um die Funktionsweise der Maschine zu erklären, die Nici – die Heldin ihres Comics ›Melek + Ich‹ – erfunden hat: Die junge Physikerin hat eine Apparatur gebaut, mit der man fremde Dimensionen bereisen kann, indem man sein Bewusstsein in einen Avatar speist. Sie gibt diesem künstlichen Körper, einer Abbildung ihres Schönheitsideals, den Namen Melek – und besucht eine Parallelwelt ihrer Gegenwart. Dort angekommen interessiert sie sich zunächst einmal für sich selbst: Sie besucht die Kneipe, in der sie in ihrem normalen Alltag, in ihrer altbekannten Welt, als Barkeeperin jobbt – um zu sehen, wie es ihr so geht.

Aber Hallo!

Meleks beziehungsweise Nicis Leben folgt klaren Strukturen. Sie ist diszipliniert, ihr Alltag optimiert, ihr Outfit reduziert. Die Nici der Parallelwelt dagegen gehorcht dem Lustprinzip und liebt es bunt. Sie ist chaotisch, dem Moment verhaftet, und scheint keine Ambitionen zu kennen, die über die direkte Befriedigung ihrer Affekte hinausgehen. Sie lebt in den Tag hinein – und genießt es.

Die beiden Nicis – die der hiesigen und die der parallelen Welt – könnten unterschiedlicher kaum sein. Dennoch funkt es sofort zwischen den beiden. Aus der Kneipenbegegnung wird direkt eine hitzige Liebschaft.

Kein drohender Weltuntergang, kein ewiger Kampf zwischen Gut und Böse, keine hyperdimensionale Space Opera, keine Begegnung der dritten Art: In ›Melek + Ich‹ geht es um eine Reise zum Ich. Angetrieben wird sie von einem Science-Fiction-Vehikel, das im Grunde nur vordergründig angeschoben wird, um von den beiden Seiten einer Medaille zu erzählen, die im Hier und Jetzt geprägt wird.

Hello, It’s me!

Der Comic handelt von Lebensentwürfen, von getroffenen und aufgeschobenen Entscheidungen, von Selbstoptimierung und Ich-Entfaltung, vom Drama im Kleinen und dem Glück im Großen und Ganzen. Außerdem geht es um die Liebe. Auch um die zu sich selbst. Lina Ehrentraut findet dafür lebendige Worte mit Drive und Witz – und schwarz-weiße, reduzierte, fast skizzenhafte Bilder, die dem vorgegebenen Tempo der Erzählung ein gutes Äquivalent bieten. Unterbrochen wird der Zeichenstil immer dann, wenn’s zur Sache geht. Wenn der Cocktail knallt, die Liebe aufflackert, beim Sex oder beim Bereisen paralleler Welten explodieren die Bilder, bis das Figürliche aufgehoben ist und Formen und Farben verlaufen.

›Melek + Ich‹ kann man als Science-Fiction-Comic lesen, als queeren Comic, als Coming-Of-Age-Comic. Wobei all das egal ist – solange man ihn liest. Denn ›Melek + Ich‹ macht Spaß, überrascht und berührt.

| CHRISTIAN NEUBERT

Titelangaben
Lina Ehrentraut: Melek + Ich
Zürich: Edition Moderne 2021
250 Seiten, 25 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Wahre Stärke

Nächster Artikel

Never Ending Tour

Weitere Artikel der Kategorie »Comic«

Untot am Hindukusch

Comic | Ennis/Wolfer: Stitched Band 1: Die lebenden Toten Garth Ennis hat es wieder getan. Diesmal frönt er seiner dritten Leidenschaft nach Rachephantasien und Religionskritik: Soldatengeschichten. In Stitched lässt er eine Truppe ISAF-Soldaten in Afghanistan auf grausige Untote treffen. Was sich nach politisch unkorrektem, spaßigem Splatter anhört, ist zwar auch Splatter, nimmt sich dabei aber überraschend ernst und scheut jede Satire. BORIS KUNZ über einen Comic, über den man sich weder richtig freuen noch richtig aufregen kann.

Der Sexologie-Comic

Comic | Liv Strömquist: Der Ursprung der Welt Selten sind Menschen beides: praktizierende Sozialwissenschaftler und aktive Comic-Künstler. Doch die schwedische Autorin Liv Strömquist ist genau dies, was sie jetzt in einem kritischen, kompromisslosen, auf seine eigene Art kunstvollen und durchaus witzigen Sachcomic bewiesen hat.

Cancer and the City

Comic | Marisa Acocella Marchetto: Cancer Woman Marisa Acocella Marchetto hat ihren Kampf gegen den Brustkrebs gewonnen – und den Leidensweg dorthin so charmant und witzig dokumentiert, dass FRANZISKA BECHTOLD Cancer Woman: Eine wahre Geschichte kaum aus der Hand legen konnte.

Ein Hoffnungsschimmer

Jugendbuch | Stéphane Marchetti: 9.603 Kilometer

9.603 Kilometer sind knapp ein Viertel des Äquators. So lange ist die Strecke, die zwei Jungs unterwegs: von Afghanistan nach England. Schlecht ausgerüstet, ständig neuen Gefahren ausgesetzt und unter Einsatz ihres Lebens fliehen sie. Eine Geschichte, die unter die Haut geht, meint ANDREA WANNER.

Verarbeitung an der Oberfläche

Comic | Roland Burkart: Wirbelsturm Zu den dramatischsten Themen, die man in einem autobiographischen Kunstwerk verarbeiten kann, gehören Brüche, die das Leben fundamental ändern, einschränken, und zwar ohne, dass man etwas dagegen tun könnte. Und noch immer erschüttern solche Geschichten das Publikum, das sich vorstellt, sich in den Protagonisten einzufühlen und seine unerfüllbaren Wünsche zu spüren. Robert Burkart hat ein solches Kunstwerk in Comicform geschaffen. In ›Wirbelsturm‹ verarbeitet der Schweizer Illustrator seine Lähmung Tetraplegie und wie er lernt, damit umzugehen. Leider fehlt bei dem hohen Tempo des Graphic Novels nahezu jede Dramatik oder psychologische Tiefe. PHILIP J. DINGELDEY hat sich