/

Aufbruch

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Aufbruch

Sie reden von Aufbruch, Anne, das ist neu.

Aber spät, es geschieht alles so spät, der Planet steht in Flammen.

Immerhin, man scheint die reale Welt wahrnehmen zu wollen, in der Politik weht eine frische Brise.

Die Dinge sind kompliziert, Tilman, die Interessen liegen weit auseinander, wie soll man gemeinsame Strategien erarbeiten, sei es national begrenzt, sei es länderübergreifend.

Die Politiker sind im Gespräch miteinander, man bewegt sich, die neuen Gesichter auf den Regierungsbänken reden vom Aufbruch, das ist ein gutes Zeichen.

Der Planet steht in Flammen, es wird eine Menge geredet, der Aufbruch gehört vom Rednerpult ins tägliche Leben, die Aufgaben sind immens, wir müssen unser Verhältnis zum Planeten von Grund auf neu definieren.

Daran wird gearbeitet, Anne, wir dürfen nicht so tun, als ob nichts geschähe, die Energiewende ist eingeleitet, die Probleme sind beschrieben.

Und was geschieht? Sie stürzen über uns herein. Wir erleben, daß das natürliche Gleichgewicht verlorengeht, jahrhundertelang gewohnte Abläufe ziehen sich zurück, die Meeresspiegel steigen, die Ozeane übersäuern, extreme Wetterlagen drohen alltäglich zu werden.

Wir laufen Gefahr, unseren Überblick, so beschränkt er gewesen sein mag, zu verlieren, Anne, ich widerspreche dir gar nicht, doch die Probleme sind bekannt, der Mensch muß anfangen, es gibt keine andere Möglichkeit, als anzufangen, deshalb ist es höchste Zeit, vom Aufbruch zu reden und endlich die Ärmel aufzukrempeln. Im übrigen, Anne, ist ein Anfang gemacht, wir wissen das, wir erinnern uns an den Club of Rome aus den frühen Siebzigern, zur Zeit erleben wir ein neues Aufbegehren der Jugend, die Dinge sind in Bewegung gebracht.

Aber spät, es geschieht alles so spät, Tilman, die irdische Kruste bricht auf, der Planet steht in Flammen, und wenn überhaupt, müssen wir Ruhe bewahren, besonnen abwägen, uns zu schützen suchen und etwaige Übergriffe abwenden, doch das hört sich an wie ein Ding der Unmöglichkeit, es herrscht höchste Bedrängnis.

Deswegen Aufbruch, Anne, das ist ein elementares Konzept, ein Aufbruch, neue Ufer, wir müssen uns besinnen, aufbrechen zu neuen Ufern, der Mensch muß lernen und sich in die Abläufe fügen, das ist ein schwieriges Unterfangen, wenig geschmeidig, kompliziert handhabbar, und die neuen Gesichter setzen einen Anfang, spät, mag sein zu spät, aber unausweichlich und höchste Zeit, wie du selbst sagst, es gibt keinen anderen Weg.

Tilman atmete tief, lächelte, griff zur Tasse, trank einen Schluck Yin Zhen und nahm ein Vanillekipferl.

Anne wollte sich nicht beruhigen.

Sieh auf den Menschen selbst, sagte sie, wie er unter den Umständen leidet, die er herbeigeführt hat.

Doch er beginnt zu verstehen, wandte Tilman ein.

Spät, es geschieht alles so spät, Tilman, der moderne Mensch hielt es nie für  nötig, sich in natürliche Abläufe zu integrieren, nein, er läuft dagegen an, sobald er sich einen Vorteil verspricht, er spielt sich auf, er nennt sich Homo Sapiens, er ruft das Anthropozän aus, er treibt seit Jahrhunderten auf irreführendem Kurs, und der Planet ist geplündert, wie konnte es so weit kommen, er hinterläßt ihn in einem haarsträubenden Zustand, es droht ein erbitterter Kampf um die verbliebenen Ressourcen, und endlich bricht er auf, den Kurs neu zu justieren, wer soll ihm das glauben, und wo setzt er ein, und welche Idee hat er denn von der Richtung, die er einschlägt.

Er wird sich orientieren, sich vielleicht sogar mit der Lebensweise der indigenen Völker vertraut machen, wird erste Schritte tun, wird sich tastend vorwärtsbewegen, das Gelände wird neu sein, wird sich notfalls graduell korrigieren, anders ist es nicht möglich.

So wird es geschehen, Tilman, und wie weit er erfolgreich sein wird, das steht dahin, er selbst ist längst ebenso beschädigt wie die Natur, die ihn umgibt, sein Körper enthält die toxischen Stoffe, die seine pharmazeutische Industrie herstellt und mit denen die Landwirtschaft versorgt wird, seine Allergien sind das Symptom seiner angegriffenen Resistenz, seine Seele leidet massiv unter depressiven Zügen, er wird es nicht leicht haben.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Bücher, soweit man schaut

Nächster Artikel

Wenn Erfindungen das Denken abnehmen

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Rückbau

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Rückbau

Schön, da hätte sich ein geschmeidigeres Wort finden lassen, doch es ist ehrlich, die Dinge sind, wie sie sind, vor allem im Straßenverkehr ist das Wort etabliert, etwa wenn es um Geschwindigkeitsbegrenzung in den Innenstädten geht, um die Einrichtung von Kreiseln zwecks Verkehrsberuhigung oder um den Rückbau von Bushaltenischen, das wird wie selbstverständlich gehandhabt, und auch die avisierte Höchstgeschwindigkeit auf Autobahnen fügt sich in diesen Begriff, oder denken wir an den Ausbau der Radwege und den Hype, der ums Radfahren gemacht wird.

Liebesgeschichte und Tragödie

Kurzprosa | Christine Wunnicke: Nagasaki, ca. 1642

Liebesgeschichte und Tragödie auf Deshima. Im 17. Jahrhundert waren die Holländer die einzigen westlichen Ausländer, mit denen die Japaner Handel trieben. Sie mussten auf einer kleinen Halbinsel vor Nagasaki wohnen, streng kontrolliert. Aber manchmal kam es doch zu kuklturverwirrenden Begegnungen. Christine Wunnicke, eine grandiose Erzählerin von Geschichten aus dem Fernen Osten, erzählt von einer Rache, die sich viel Zeit gelassen hat. Von GEORG PATZER

Ordnung

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ordnung

Farb war nicht von dieser Welt, nein, diese Welt lief an ihm vorbei, ihr hohes Tempo ließ ihn kalt, ihr verführerischer Glanz und ihre lauthals brüllende Musik hinterließen keinen Eindruck, er war damit zufrieden, an den Nachmittagen in aller Stille einen Tee zu trinken und zu plaudern, nichts lockte ihn fort, ferne Länder durften ferne Länder bleiben.

Eliten

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Eliten

Aber selbstverständlich, sagte Gramner, sie seien nicht von gestern.

Nicht daß sie ahnungslos wären, die Eliten der Moderne, sagte Pirelli, sie seien informiert, einundzwanzigstes Jahrhundert, sagte er, kommuniziert werde digital ohne zeitlichen Verzug, Spitzentechnologie, Hochleistungsgesellschaft, besser geht’s nimmer, das sei ein anderes Thema als hier bei uns, wo gerade einmal die Bahnverbindung quer über den Kontinent gelegt werde, Union Pacific, und der Goldrausch die Berichterstattung in den Gazetten dominiere.

Die Eliten wüßten bestens Bescheid, spottete Crockeye, sie führen uns.

Absolut, sagte London und lachte, die Eliten gäben den Ton an.

Verwirrung

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Verwirrung

Die allgemeine Konfusion verdichte sich, nicht wahr, man müsse sich eine gehörige Portion Argwohn bewahren, sagte Tilman und  griff nach einem Vanillekipferl.

Farb schenkte Tee ein.

Der Planet sei heruntergewirtschaftet, die Dinge würden unaufhaltsam bröckeln, sagte er, der Status quo werde allerorten unzureichend oder falsch erklärt, und niemand wundere sich noch über ungewöhnliche Perspektiven.