/

Eine Zeitreise

Kinderbuch | Johanna Schaible: Es war einmal und wird noch lange sein

Bücher haben die Macht, mit den Dimensionen Raum und Zeit zu spielen, mit ihnen gleichsam zu jonglieren, das Ferne ganz nah herzuholen, auf das Nahe mit Distanz zu blicken, Vergangenheit und Zukunft aufzuheben. Einem außergewöhnlichen Bilderbuch gelingt das auf unnachahmliche Art, findet ANDREA WANNER.

Das Buchcover zeigt eine Zeichnung des Planeten Erde und des MondesDas Cover ist schwarz, wir sehen die Erde und den Mond, beides aus der Ferne. Wo sind wir, wenn das unser Blick auf unsere Welt ist? Es bleibt zunächst dunkel, wenn wir das Buch öffnen. Aber in dieser Dunkelheit tobt ein Feuer, sprühen Funken, bewegen sich rot glühende Lavamassen und erstarren: »Vor Milliarden von Jahren formte sich das Land.« Und dann? Besiedelten Dinosaurier die Erde, zogen Menschen auf der Suche nach Überlebensmöglichkeiten durch Wüsten und über Berge, bauten schließlich sesshaft geworden so spektakuläre Dinge wie die Pyramiden. Aber auch das ist noch Tausende von Jahren vor unserer Zeit geschehen, der wir uns mit immer kleiner werdenden Seiten nähern, jede im Format in Länge und Breite um knapp einen Zentimeter schmäler als die vorhergehende.

Die Zeiten des Rückblicks werden kürzer: Vor hundert Jahren, vor zehn Jahren, vor einem Jahr … Für manche ist das vielleicht der erste Zeitraum, den sie selbst erlebt haben: vor einem Jahr. Das Tempo zieht an: »Vor einem Monat war noch Herbst.« Jetzt ist tatsächlich der Winter da. Und dann erinnern wir uns: vor einer Woche, gestern, vor einer Stunde.

Wir blicken von außen in ein Haus mit erleuchteten Fenstern, der Vater werkelt noch. Ist das Zimmer unter dem Dach das Kinderzimmer? Und dann sind wir fast angekommen: »Vor einer Minute wurde das Licht gelöscht.« Durch den Türspalt dringt warmes Licht ins Zimmer, hinterlässt neben dem Bett auf dem Boden eine goldene Spur. Warm und geborgen wirkt alles. Und wir sind bereit für den magischen Moment.

»Jetzt!« Da ist er. Ein Augenblick. Ein Atemzug. Die kurze Zeitspanne, die schon vorüber ist, wenn wir anfangen darüber nachzudenken. Festgehalten als das Herzstück des Bilderbuches: ein kleines, dunkles Porträt des Nachthimmels mit winzigen Sternenpunkten, über den eine Sternschuppe zieht. Und die winzige Gelegenheit, diese Zeit zu nutzen: »Wünsch dir was!«.

Den Rahmen bilden in sanften, gedeckten Tönen einerseits die Ereignisse der Vergangenheit, die gesamte Geschichte unsere Erde, die wir gerade durchschritten haben und die sich als bunte Streifen um das Bild des Sekundenbruchteils legen. Und wir sind ja erst in der Mitte der Geschichte angekommen. Was fehlt, die andere Hälfte, ist die Zukunft. Unsere Zukunft, genau ab jenem Jetzt.

Die beginnt mit dem Aufstehen am nächsten Morgen, mit der Frage danach, was der Nachmittag bringen könnte. Und der kommende Abend, das Wochenende, der nächste Monat. Hier begleiten Fragen die collagenartigen Szenen, die Freiräume für eigene Gedanken, Pläne und Wünsche lassen. Die Abstände werden wieder größer. »Wie feierst du im nächsten Jahr deinen Geburtstag?«, die Zukunft reicht bis in die Zeit, in der das angesprochene du alt geworden ist. Und darüber hinaus.

Johanna Schaible arbeitet als Künstlerin und Illustratorin in Bern. Ihr Bilderbuchdebüt ›Es war einmal und wird noch lange sein‹ war der Sieger der dPictus-Präsentation, die 2019 auf der Frankfurter Buchmesse 350 unveröffentlichte Bilderbuch-Projekte ausstellte, und wurde von den dreißig Jury-Verlagen unabhängig voneinander als bestes Projekt ausgezeichnet. Eine gelungene Synthese aus Philosophie und Kunst, aus Vergangenem und Zukünftigen, aus Erinnern und Planen, aus Nachdenken und Genießen. Einfach ein wunderschönes Buch, das unterschiedliche Altersgruppen ganz unterschiedlich anspricht und erreicht und über das man ins Gespräch kommen kann.

| ANDREA WANNER

Titelangaben
Johanna Schaible: Es war einmal und wird noch lange sein
München: Hanser 2021
56 Seiten, 18 Euro
Bilderbuch ab 5 Jahren
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Der Fall der verschwundenen Schriftsteller

Nächster Artikel

Er wollte noch fliegen lernen

Weitere Artikel der Kategorie »Kinderbuch«

Vorstellungsgespräche

Kinderbuch | F.M. Reifenberg: Zimmer frei in der Knispelstraße 10 In der Knispelstraße 10 wohnen ein Känguru, eine Gazelle, ein Faultier und ein Chamäleon. Zugegeben nicht ganz alltägliche Tiere. Umso verständlicher ihr Wunsch, dass in das eine, noch freie Zimmer ein passender Mitbewohner bzw. eine passende Mitbewohnerin ziehen soll. Gar nicht so einfach, findet ANDREA WANNER.

Ein tierisches Vergnügen

Kinderbuch | Musik | Camille Saint-Saëns: Der Karneval der Tiere

Mozart war ein Wunderkind, keine Frage, aber es gäbe da jemanden, der das Prädikat ebenso verdient hätte: Camille Saint-Saëns, rund 80 Jahre nach Mozart geboren, 1835 in Paris. Er kann mit 2 Jahren lesen, schreibt mit 3 Jahren seine ersten Musikstücke, gibt mit fünf Jahren sein erstes Konzert, spricht mehrere Sprachen, und: Er hat ein extrem gutes Gedächtnis. Vielleicht entsprang der Karneval der Tiere ja seiner Sehnsucht und Fantasie: viel Einsamkeit nämlich hatte der Pianist, Dirigent, Musikwissenschaftler und Musikpädagoge in seinem Leben erfahren müssen und diese Geschichte ist ein grandioses musikalisches Fest der Freude und Gemeinschaft. Das interaktive Bilderbuch, so findet BARBARA WEGMANN, führt an Saint-Saëns Werk bestens heran.

Kampf dem Irrtum und Vorurteil

Kinderbuch | Jon Agee: Auf der anderen Seite der Mauer

Wir stellen uns eine hohe Mauer vor. Und wir wissen, dass auf der anderen Seite etwas ganz Schreckliches ist. Etwas wirklich Ungeheuerliches. ANDREA WANNER blätterte in diesem spannenden Bilderbuch.

Machtkampf

Kinderbuch | Antje Damm: Der Wolf und die Fliege Wenn ein Wolf und eine Fliege aufeinandertreffen, scheint klar, wer der Stärke von beiden ist. Oder? ANDREA WANNER ließ sich überraschen.

Das Abenteuer der Malerei

Kinderbuch | Daniel Fehr: Ella im Garten von Giverny

Auch ein so bekannter und berühmter Maler wie Claude Monet (1840-1926) hat irgendwann einmal angefangen. Deshalb ist die wichtigste Erkenntnis dieses wunderbaren Kinderbuches: Nie Angst vor Papier, Stift und Farben haben oder gar glauben, es könnte ein »hässliches Bild« werden! Denn das liegt immer im Auge des Betrachters. BARBARA WEGMANN hat die Geschichte von Ella und ihrer ungewöhnlichen Begegnung gelesen.