Seit sie jung war, störte sich die japanische Autorin Marie Kondo an dem visuellen Grundrauschen um sie herum. Rauschen ist, wenn alles drin ist und zugleich nichts erkennbar. Es ist so viel, dass man nicht mehr das Unwichtige vom Wichtigen unterscheiden kann. Damals hat Kondo begonnen aufzuräumen, um dieses aus ungetragener Kleidung, ungelesenen Büchern und tausend kleinen Dingen bestehende Grundrauschen zu beseitigen. So entstand zuerst ein Coaching, dann Bücher und zuletzt die Streamingserie »Aufräumen mit Marie Kondo«.
Der Zauber von Kondos Ansatz besteht nicht im Aufräumen an sich, sondern darin, sichtbar zu machen, was einem wichtig ist. Ob diese Haltung alleine mit dem Buch »Das große Magic Cleaning Buch« vermittelbar ist? Fragt BASTIAN BUCHTALEK
Das Buch ist in drei Teile aufgeteilt. Der erste Teil enthält die grundlegenden Aufräumtipps, im zweiten Teil ist eine Aufräum-Enzyklopädie untergebracht und im dritten Teil geht es um die lebensverändernden Auswirkungen des Aufräumens. Während der erste und dritte Teil interessante Impulse liefern, kann man den zweiten Teil getrost überspringen. Auf die Dinge, die Kondo in ihrer Enzyklopädie bespricht, kommt man als aufmerksamer Leser der anderen beiden Teile von selbst.
Ausgehend vom idealen Zustand: Behalte, was dir wertvoll ist
Worin besteht nun Kondos Aufräumprinzip?
Bloß, wie soll man wissen, was wertvoll genug ist? Immerhin erscheint alles so wertvoll, dass Schränke und Kommoden voll sind. Das Rauschen setzt ein.
Kondo empfiehlt, einen Idealzustand zu entwickeln. Ob gezeichnet, aufgeschrieben, oder als ausgeschnittene Bilder aus Magazinen; die Vorgehensweise ist wie bei jedem Coaching: man muss ein Ziel formulieren, an dem man sich orientieren kann. Der Idealzustand sieht meist aufgeräumte, leere Räume vor. Um diesen erreichen, müssen nicht nur viele Dinge aussortiert, sondern auch die Möbel reduziert werden (was dann möglich ist, wenn man viele Dinge aussortiert hat).
Die Bedeutung der Dinge
Und dennoch steht nicht das reine Aussortieren von Unnötigem im Mittelpunkt, sondern das Behalten dessen, was für wertvoll erachtet wird. Jedes Ding, jeder Gegenstand trägt eine Bedeutung für den Betrachter in sich. Jeder Gegenstand will auf eine Weise (ästhetisch, historisch, emotional oder praktisch) von Nutzen sein. Gleichzeitig gilt, dass ein Gegenstand wie in einem Museum Raum braucht, um seine Wirkung zu entfalten.
Dies ist die Bedeutung der Dinge, sie sollen ihren Besitzer (oder Benutzer) glücklich machen. Welcher Gegenstand dies tut, erfährt man durch das Anfassen des Gegenstands. »Was glauben Sie, warum das so ist? Weil wir nicht mit dem Verstand entscheiden, ob uns etwas gefällt, sondern mit dem Herzen fühlen.« (Seite 30) Dinge, die dies nicht tun, sind im Weg und gehören aussortiert.
Ohne Marathon geht es kaum
Konkret geht das Magic Cleaning so vor. Man stapelt alle Dinge einer Kategorie (z.B. Kleidung, Badeaccessoires, Küchenutensilien etc.) an einem Ort. Ein solcher Haufen macht offensichtlich, wie viele Dinge man hat und wie wenige dieser Dinge man tatsächlich benötigt. Anschließend nimmt man jedes einzelne Teil in die Hand und fragt sich, ob es einen glücklich macht. Dinge, die das nicht tun, werden aussortiert. Das macht man für alle Räume und alle Gegenstände. Am Besten in einem Rutsch. Darum nennt Kondo dies Aufräummarathon.
Auf diese Weise entsteht der Platz in den Schränken, den man braucht, um allen Dingen einen festen Platz zu geben. In der Regel bleiben nach einem Aufräummarathon Möbel leer, die dann ebenfalls entsorgt werden können. Das Rauschen wird verringert, der Idealzustand rückt näher.
Die philosophische Qualität
Die Methode Kondo zielt darauf ab, mit den wiederholten Entscheidungen im Aufräumprozess das Urteilsvermögen zu schärfen und sich über den Wert der Dinge bewusst zu werden. Am Ende, so die Idee, erkennt man, was tatsächlich wichtig ist und was nicht – auch im großen Maßstab. Insofern bedeutet Aufräumen auch im Inneren aufräumen. Nicht nur die Wohnung wird leerer, man wird über sich selbst klarer. Aufräumen ist, so verstanden, eine Schule des Lebens.
Aktuell ist es doch so, dass viele Menschen in der Überflussgesellschaft nicht mehr wissen, was ihnen überhaupt wirklich gefällt. Wenn man alles haben kann, muss man nicht mehr überlegen, was man wirklich will. Das ist auch das visuelle Rauschen. Eine Art Warenrauschen.
Mit Kondo entdeckt man die Abwesenheit von Überfluss als eine eigene Qualität. Sie gibt einem die Freiheit, die Dinge zu tun, die einem wichtig sind. Das hat philosophische Qualität.
Lieblingsorte einrichten
Man kann es jedoch auch übertreiben. In einem Beispiel schreibt Kondo, wie sie Lautsprecher aussortiert, weil sie ihr zu eckig waren. Anschließend verwendet sie ihre Kopfhörer als Lautsprecher, indem sie diese voll aufdreht. Kondo akzeptiert also einen enormen Verlust an Klangqualität und somit auch im Bereich Musik hören oder Filme schauen für einen vergleichsweise geringen Zugewinn im Bereich Aufgeräumtheit. Passend dazu bekennt die Japanerin, wenige Hobbys zu haben. Man kann das Aufräumen auch zu weit treiben.
Zuletzt ist ein wichtiger Tipp, sich Lieblingsorte zu schaffen. Auch wenn die eigene Wohnung noch voller Dinge ist oder sich das Haus nicht aufräumen lässt, weil Familie viele Dinge braucht, so kann man sich immer noch an seinen Lieblingsort mit ausschließlich seinen Lieblingsdingen zurückziehen und wohlfühlen. Der Lieblingsort ist eine Oase in der Wüste. Ein Ort ohne ablenkendes Rauschen.
Insgesamt ist das System Kondo ein sehr wertvolles in der Überflussgesellschaft. Es hilft effektiv gegen das visuelle Rauschen. Aus diesem Grund ist die Lektüre des Buchs »Das große Magic Cleaning Buch. Über das Glück des Aufräumens« eine Empfehlung für alle, die ihr Leben (und nicht nur ihre Wohnung) verschlanken wollen, zumal die Quintessenz wirklich leicht zu merken ist: behalte nur, was dich glücklich macht und weise jedem Gegenstand genau einen Aufbewahrungsort zu.
Titelangaben
Marie Kondo: Das große Magic Cleaning Buch
Über das Glück des Aufräumens
Hamburg: Rowohlt Verlag 2018
320 Seiten, 15 Euro
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