Kuckuckskinder

Roman | Mick Herron: Spook Street

Die »Slow Horses« um ihren ungehobelten Chef Jackson Lamb, vom normalen Karriereweg beim englischen Inlandsgeheimdienst MI 5 ausgeschlossene Frauen und Männer, bekommen mal wieder Arbeit. In einem Einkaufszentrum im Westen Londons tötet eine mitten am Tag explodierende Bombe 42 Jugendliche. Kurz darauf bekommt einer von Lambs Leuten, River Cartwright, Ärger mit seinem pensionierten Großvater. Der war vorzeiten die Nummer 2 des MI 5. Inzwischen etwas trottelig geworden, weiß er sich trotzdem noch zu wehren und erschießt kurzerhand einen Mann, der sich mit dem Enkeltrick bei ihm einschleichen will. Aber was hat der aus Frankreich kommende und dem jungen Cartwright zum Verwechseln ähnlich sehende Bursche mit dem Anschlag in der Westacres Shopping Mall zu tun? Und wieso müssen Jackson Lambs lahme Gäule aus der »Loser-Absteige« erneut alles riskieren, um sich und ihr Land vor einer Gefahr zu schützen, die ihre Vorgänger einst heraufbeschworen haben? Von DIETMAR JACOBSEN

Sie ersticken nicht gerade unter einem Berg von Arbeit, die im Londoner Slough House, einer Zweigstelle des Security Service, dem Ort, »wo man landete, wenn einem  alle anderen Wege beim Geheimdienst versperrt waren«, ihre Tage verbringenden Männer und Frauen. Im Gegenteil: Wer hierher versetzt wird wie River Cartwright, Enkel der einstmaligen Nummer 2 des MI 5, dem hilft auch die prominente Verwandtschaft nicht mehr. Der oder die ist auf einem Abstellgleis gelandet, nicht entlassen, aber ruhiggestellt, weil man einmal versagt hat oder anderweitig auffällig geworden ist. Nun trinken sie Tee oder üben sich im Waterboarding. Nur Sinnvolles bekommen sie kaum mehr zu tun, auch wenn sie alle danach gieren, sich zu rehabilitieren.

Ins »Sumpfquartier« verbannt

Da könnte es durchaus hilfreich sein, wenn man mit vereinten Kräften die Hintergründe eines Bombenanschlags aufklären würde, der in Westlondon gerade 42 Jugendlichen, die nichts suchten als ein bisschen Spaß, das Leben kostete. Weil aber fast zur selben Zeit Kollege River Cartwright von der Bildfläche verschwindet, nachdem man bei seinem Großvater, einst ein Ass beim MI 5, eine dem Enkel verblüffend ähnlich sehende Leiche gefunden hat, die auf das Konto des geistig nicht mehr ganz fitten Alten ging, finden sich die Slow Horses plötzlich gleich an mehreren Fronten wieder. Und geraten selbst allmählich ins Visier von ein paar Relikten aus den Zeiten des Kalten Krieges und ihres Erfinders, dem die Kontrolle über seine Geschöpfe allmählich aus den Händen geglitten ist.

Denn was der Enkel der liebevoll von ihm O.B. (Old Bastard) genannten einstigen Geheimdienstgröße auf seiner Fahrt in die französische Provinz, aus der sein Doppelgänger und ein paar andere gefährliche Männer nach London gekommen sind, dort über eine dubiose, vor Jahren ins Leben gerufene Wohngemeinschaft von Ex-Spionen aus aller Welt herausfindet, führt nicht nur zu den Shopping-Mall-Attentätern, sondern auch zu einem wahnwitzigen, einst in Geheimdienstkreisen geschmiedeten und dort auch finanziell abgesicherten Plan. Extremismus mit Extremismus zu bekämpfen, Terroristen das Handwerk zu legen indem man ihre Methoden simuliert, war das Ziel dieses Unterfangens, das sich inzwischen selbständig zu machen droht und dringend gestoppt werden muss. Aber niemand in der Geheimdienstzentrale will sich dieses heißen Eisens annehmen. Und so sind es letztlich wieder einmal die abgehalfterten Agenten aus dem Slough House, die Kopf und Kragen riskieren müssen, um die Schatten der Vergangenheit zurückzudrängen.

Am besten überlaufen – aber wohin?

Und auch diesmal zeigt es sich, dass Jackson Lamb, der jede zweite Frage nicht verbal, sondern mit einem lauten Geräusch aus einer seiner Körperöffnungen beantwortet, so ungehobelt sein mag, wie er will – wenn er gebraucht wird, um Schaden von seinen Leuten abzuwenden, ist er da. Was man von seinen am fernen Regent’s Park residierenden Vorgesetzten nicht behaupten kann. Die inszenieren immer noch tagein tagaus das gute alte Hauen und Stechen, Intrigieren und Übervorteilen, Speichellecken und Sich-gegenseitig-Austricksen, das man noch aus den Zeiten des Kalten Krieges kennt. Als ginge es weiterhin um Sicherheitsfragen von nationalem Belang und nicht darum, die eigenen, teilweise weit in die Vergangenheit zurückreichenden unrühmlichen Spuren möglichst ohne Aufsehen, wenn nötig aber auch mit Härte zu beseitigen.

In den Büchern von Mick Herron (Jahrgang 1963)neun Romane und zwei Erzählungen umfasst die Jackson-Lamb-Reihe inzwischen im englischen Original – wird das Spionage-Business alles andere als heroisiert. Seine Helden, abgehalfterte Agenten und ihr ziemlich schmuddeliger Anführer sind den sich überlegen fühlenden Damen und Herren in der MI 5-Zentrale ein ständiger Dorn im Auge und bieten jede Menge Anlass zu Querelen. Werden sie aber einmal gefordert, geben die »lahmen Gäule« aus dem »Sumpfquartier« alles. Denn die Hoffnung, dass man in nicht allzu ferner Zukunft aus dem Exil im »Slough House« triumphal an seinen alten Arbeitsplatz zurückkehren kann, stirbt zuletzt. Auch wenn man sich inzwischen keine großen Gedanken mehr über die Sinnhaftigkeit seines Tuns macht, sondern gelegentlich sogar mit dem Gedanken überzulaufen spielt. Doch das lohnte wohl nur, »wenn es heutzutage noch irgendetwas gäbe, wohin man überlaufen könnte«, wie eine von Mick Herrons Figuren das Dilemma aktueller Geheimdienstarbeit am Ende des Romans auf den Punkt bringt.

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
Mick Herron: Spook Street. Ein Fall für Jackson Lamb
Aus dem Englischen von Stefanie Schäfer
Zürich: Diogenes 2021
456 Seiten. 18 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Eine Welt voller Schätze

Nächster Artikel

Laubentraum & Gartenglück

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Sommer ohne Balkon

Roman | Elena Fischer: Paradise Garden

Den vielversprechenden Debütroman einer bislang unbekannten Autorin schickte der renommierte Diogenes Verlag ins Rennen um den Deutschen Buchpreis. Mit guten Gründen, denn Elena Fischers Paradise Garden kommt so hinreißend frisch und unverbraucht daher, dass man das Buch nicht mehr aus den Händen legen mag, trotz der im Grunde tieftraurigen Thematik. Doch mehrfach heißt es im Verlauf der Geschichte: alles auf Anfang. Von INGEBORG JAISER

Heimkehr mit Hindernissen

Roman | Heinrich Steinfest: Die Möbel des Teufels

Am 1. August 1976 stürzte die die Wiener Bezirke Leopoldstadt und Donaustadt verbindende Reichsbrücke auf voller Donaubreite ins Wasser. Am Nachmittag desselben Tages verunglückte auf dem Nürburgring der österreichische Formel-1-Pilot Niki Lauda mit seinem Ferrari schwer. Zufall oder Koinzidenz der Ereignisse? Wenn Heinrich Steinfest solche Ereignisse in das Leben seiner Romanfiguren hereinholt, ahnen die Leser inzwischen bereits: Es wird wieder einfallsreich. Und alles, auch das Unglaublichste, ist möglich. Denn »pure Zufälle sind der Aberglaube der Aufklärung.« Von DIETMAR JACOBSEN

Ein Bekenntnis zur Sprache der Literatur

Roman| INTERVIEW | Daniel Galera: Flut Flut ist der erste ins deutsche übersetzte Roman des brasilianischen Schriftstellers Daniel Galera. Dort erzählt er eine ganz besondere Familiengeschichte, die drei Generationen umfasst. BETTINA GUTIÉRREZ hat mit dem Autor gesprochen.

Zu jung, um schon erwachsen zu sein

Roman | Bret Easton Ellis: The Shards

Sie sind in ihrem letzten Jahr an der Buckley High in Los Angeles: Bret und Debbie, Thom und Susan, Ryan und Robert, der Neue. Ein paar Monate noch, dann beginnt der Ernst des Lebens. Über den man sich auf der Schwelle zwischen Jung- und Erwachsensein noch nicht so viele Gedanken macht. Bret, der Erzähler in Ellis neuem, seinem siebten Roman, weiß nur eines: Irgendwann wird er ein Schriftsteller sein. An seinem Debüt mit dem Titel Unter Null schreibt er schon. Es soll ein Roman über das Leben von seinesgleichen werden: saturierten Jugendlichen, denen es an nichts fehlt, die sich alles leisten können, im Grunde aber nicht viel mit ihrem Leben anzufangen wissen. Aber weil sich irgendwo draußen ein Serienkiller herumtreibt und auch zwischen den Schülern der Buckley High mit dem Erscheinen eines Neuen Konflikte aufbrechen, wird dieser Herbst des Jahres 1981 letzten Endes doch mehr einer des Umbruchs als des Stillstands. Von DIETMAR JACOBSEN

Der Traum von einer besseren Welt

Krimi | Arne Dahl: Neid Nach Gier (Piper 2012) und Zorn (Piper 2013) kann man nun mit Neid den dritten Teil von Arne Dahls Serie um die OPCOP-Gruppe auf Deutsch lesen. Erzählt wird, wie um eine Erfindung, die die Welt revolutionieren könnte, ein blutiger Krieg entbrennt. Und trotz aller Zukunftsmusik, die in dem rasant zu lesenden Roman erklingt, bleibt Dahl erfreulicherweise mit beiden Füßen auf der Erde und plädiert für ein Europa, dass sich seiner weltweiten Verantwortung bewusst werden sollte. Von DIETMAR JACOBSEN