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Leichendiebe und ein untergetauchter Auftragsmörder

Roman | Frank Goldammer: Im Schatten der Wende

Tobias Falck ist der Neue beim Dresdener Kriminaldauerdienst. Der frischgebackene Leutnant kommt von einem Ausbildungslehrgang für den Mittleren Polizeidienst zurück in seine Heimatstadt und darf im Wendeherbst 1989 endlich das machen, wovon er schon als Polizeiobermeister in den letzten Jahren der DDR träumte: Ermitteln! Doch das ist alles andere als leicht in der Zeit kurz nach dem Mauerfall. Niemand weiß so recht, wie es weitergeht mit einem Land im Umbruch, seinen Institutionen und Ordnungsmächten. Allein das Verbrechen pausiert nicht, sondern zeigt, nachdem die Grenzen offen sind, ganz neue Facetten. Und plötzlich sehen sich Falck und seine Ostkollegen gemeinsam mit einer westdeutschen Polizistin auf der Jagd nach einem Auftragskiller und ein paar auf mysteriöse Weise verschwundenen Leichen. Von DIETMAR JACOBSEN

Dresden im Dezember 1989. Genau wie das ganze Land befindet sich auch die Stadt an der Elbe im Umbruch. Einen knappen Monat ist es her, dass die Grenzen der DDR aufgegangen sind. Noch ist Taumel angesagt, sind die »Wahnsinn!« – Rufe der ersten Wochen eines neuen Lebens nicht verhallt. Man lebt im Moment, kaum einer stellt sich die Frage, wie es weitergehen soll. Das Begrüßungsgeld sorgt für die Krönung in den Kaffeetassen der Moccafix-müden Ostler, bisher unbekannte Obstsorten erscheinen auf den Märkten und ganz allmählich wird aus dem Wendeslogan »Wir sind das Volk!« der in den Ohren vieler vor allem nach Westmark, Mallorca-Urlaub und Autos ohne Pappe, dafür aber mit Stern auf der Kühlerhaube klingende neue Ruf »Wir sind ein Volk!«. 

Wahnsinn!

In diesen Tagen kommt Tobias Falck zurück in seine Heimatstadt. Der Ex-Polizeiobermeister hat, um zur Kriminalpolizei zu kommen, einen Lehrgang in Aschersleben besucht. Und viel Glück gehabt, als er und seine Kameraden am  9. Oktober gegen die Leipziger Demonstranten eingesetzt werden sollten. Die befürchtete »chinesische Lösung«, bei der Falck auf Seinesgleichen hätte schießen müssen, war ausgeblieben. Den Fall der Mauer hatte er als Parteimitglied und vom Sozialismus Überzeugter ungläubig staunend vor dem Fernsehgerät in der Kaserne erlebt. Nun soll er als Leutnant beim neugegründeten Kriminaldauerdienst mithelfen, das Verbrechen in Dresden unter Kontrolle zu halten.

Doch das ist besser gesagt als getan. Denn die Kriminalität im Osten Deutschlands verändert sich rapide. Drogenhandel, Prostitution und Bandenkriminalität stellen ganz neue Herausforderungen für ein kleines Team dar, das noch für eine ganze Weile im Trabant zu seinen Tatorten tuckern muss, seine Berichte in mechanische Schreibmaschinen zu hämmern hat und unter Vorgesetzten seine Arbeit verrichtet, die lieber nichts tun als etwas falsch zu machen. Doch Zeit zum Nachdenken gibt es nicht, denn schon bald steht Tobias Falck vor seiner ersten Leiche.

Im Trabant zum Tatort

Allein die ältere, von einem Auto überfahrene Frau verschwindet spurlos, als Falck und Kollegen der Toten auf ihrer Trage für eine Weile den Rücken zukehren, um Zeugen zu befragen. Dafür taucht am nächsten Tag eine neue Kollegin auf. Sybille Suderberg hat als Hauptkommissarin in Frankfurt am Main Erfolge gefeiert und ist nun, wie sie forsch behauptet, in einer »grenzübergreifenden Angelegenheit« nach Dresden gekommen, bei der sie sich Unterstützung von der dreiköpfigen Ermittlergruppe aus Einheimischen – außer Falck gehören noch Hauptmann Edgar Schmidt, der ziemlich unorthodoxe Teamleiter, und die vor der Wende für Sexualdelikte zuständig gewesene Steffi Bach zum Dresdener KDD – erhofft. Der »Geruch ihres inflationär aufgetragenen Parfüms« und die Tatsache, dass sie den ihrer Meinung nach armen, vierzig lange Jahre in ihrem Land eingesperrten Kollegen den Geruch der Freiheit in Form eines Korbes mit exotischen Früchten als Einstandsgeschenk mitbringt, lassen sofort klar werden, dass sie lange brauchen wird, um sich auf der Beliebtheitsskala nach oben zu arbeiten.

Aber man hat kaum Zeit, sich mit Suderberg und deren antiquierten Vorstellungen vom Leben in der »Zone«auseinanderzusetzen. Denn außer weiterhin von Tatorten verschwindenden Leichen und ein paar Fällen, die Schmidt, Bach und Falck bereits vor der Wende umtrieben und die nun endlich aufgeklärt werden können, sind da noch ein skrupelloser Serienmörder, dem die Frankfurter Kollegin in den wilden Osten gefolgt ist, sowie zunehmend blutiger werdende Verteilungskämpfe in dem schnell expandierenden Rotlichtmilieu der Elbmetropole, bei denen der Mann offensichtlich die Drecksarbeit erledigt. Und nicht zuletzt beunruhigt Tobias Falck auch die wachsende Gewissheit, dass mit der Frankfurter Hauptkommissarin selbst etwas ganz und gar nicht stimmt und ihre Mission die neuen Kollegen sogar in tödliche Gefahr bringen könnte.

Florierende Verbrechen in blühenden Landschaften

Geschickt baut Frank Goldammer in seinen Roman Ereignisse der Zeitgeschichte ein. Honecker wird gegangen, Krenz kommt, Krenz geht, Modrow gibt den Moderaten, aber gegen Kohl und dessen »blühende Landschaften« hat auch er letztlich keine Chance. Das Begrüßungsgeld ist schneller ausgegeben als abgeholt. Falck und das Team des KDD Dresden sehen sich einer riesigen Menge zorniger Bürger anlässlich der Besetzung der Stasi-Bezirksverwaltung am 5. Dezember 1989 gegenüber – doch es bleibt weitgehend friedlich. Noch mehr Menschen jubeln dem westdeutschen Bundeskanzler bei dessen Auftritt vor der Ruine der Frauenkirche zu, behandeln ihn »wie einen Heilsbringer, als ob er es gewesen war, der die Mauer zu Fall gebracht hatte«. Und dort, wo die neuen Herren glauben, die ehemaligen, nach Parteidirektiven arbeitenden Führungskräfte des Landes durch frisches Blut aus dem Westen ersetzen zu müssen, tauchen plötzlich täppische Zeitgenossen auf, die man schon bald »Besserwessis« nennt.

Nach den sieben Bestsellern seiner zwischen 1945 und 1961, dem Jahr des Mauerbaus, in Dresden spielenden Max-Heller-Serie (2016 bis 2021) lässt Frank Goldammers seine neue Romanreihe in dem Moment beginnnen, in dem die Mauern zwischen Deutschland/ Ost und Deutschland/ West wieder fallen. Vielleicht ist ihm diesmal seine zentrale Figur am Anfang eine Spur zu naiv geraten. Von »westlichen Revanchisten«, deren feindliche Agitation aus Teilen der DDR-Jugend Punker und sogar Faschisten machte, hat wohl in den letzten Monaten der untergehenden Republik außer dem unverbesserlichen Karl Eduard von Schnitzler kaum noch jemand gesprochen. Aber dieser Tobias Falck besitzt Potential und als sich am Ende von Im Schatten der Wende herausstellt, dass er, ohne es zu wissen, in den Monaten zwischen dem alten und seinem neuen Leben sogar Vater geworden ist, eröffnen sich für ihn auch private Perspektiven, die auf die Fortsetzung der Geschichte gespannt machen.

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
Frank Goldammer: Im Schatten der Wende
München: dtv 2022
379 Seiten. 16,95 Euro
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