Kinderkalender gibt es ja einige. Aber einer überragt sie alle: Früher hieß er Arche Kinder Kalender. Mit seiner wunderbaren Auswahl, den unterschiedlichen Texten und phantasievollen Illustrationen ist er seit Jahren die beste Wahl. Von GEORG PATZER
Da ist er wieder. Endlich. Jedes Jahr warte ich auf ihn, jedes Jahr kaufe ich noch einen zweiten, den ich ins Ausland schicke: Denn ein Jahr ohne Kinderkalender geht einfach nicht. Probiert es aus – es ist unmöglich. Aber es darf nicht irgendeiner sein. Sondern der, der einmal Arche Kinder Kalender hieß. Die inzwischen über 80 Jahre alt gewordenen Verlegerinnen Elisabeth Raabe und Regina Vitali, die allein für diesen Kalender dereinst in den Bücherhimmel kommen werden, haben ihn abgegeben, so wie sie den Arche Verlag verkauft haben. Dieses Jahr erscheint der Kinderkalender im Moritz Verlag, herausgegeben wird er nach wie vor von der Internationalen Jugendbibliothek München
Es ist ein Kalender zum Staunen und Wundern, zum Genießen und sich freuen, und es geht mit 53 Gedichten und Bildern rund um die Welt. Und da diese Welt abstrus ist und voller Magie, sind auch die Texte und Illustrationen so. Da sitzt eine Pinguindame im Kühlschrank, die Besuch von ihrem Neffen bekommt: komplett mit Hut und lila Köfferchen und einem Eis am Stiel in der Hand. Da beschwert sich der kleine Drache, dass es schon wieder gegrillten Ritter zum Mittagessen gibt und er möchte ihn doch bitte wenigstens ohne Rüstung: »Denn ohne Kruste schmeckt’s besser.« Und klein und nett auf dem runden, weißen Teller appetitlich angerichtet liegt Sir Gustav. Da gibt es in einem anderen Bild ein »Kahlschrünk ein Fahllküch, daraus holen wir Spihmranat und Stäschfibchen« und »bagen uns den Schlauch voll«, bis sie pappsatt sind. Ums Essen geht es auch beim Fingertier: »Mit dem extralaaaaaaaaaaaaaaaaaaangen knochigen Finger pult es die Larve aus ihrem Versteck.« Glotzt auf den »Schmackofatz schmatz, schmatz. Aye-aye Leckerei. Einwandfrei! Sonntagsbrei!«
Der Kalender erzählt gleich zweimal hintereinander von Elefanten: einmal als Wunsch eines Buben, der auch gern so eine lange Nase hätte, die er sich dann lässig um die Hüfte schlingen würde, einmal in unüberschaubaren Massen und in allen Farben übereinandergestapelt: »Ein Durcheinander aus blauen weißen roten rosafarbenen elfenbeinschwarzen Elefanten, die ganz verwirrt und aufgeregt blindlings umherirren. Ein Gemälde aus smaragdgrünen orange- malven- und senffarbenen zügellosen extravaganten Elefanten«.
Und die Sommerseiten im Juni und Juli sind natürlich der Hitze gewidmet, mit der Flunder, die einfach gar nichts tut, sondern bloß lässig herumliegt, »wie eine Prinzessin«. Mit dem sommerlichen Weihnachtsmann, den ein estnisches Gedicht bittet: »Wir haben doch so viele Sommersitten, da würd ich gern sein Rentier bitten, komm her zu uns mit vollem Schlitten.« Oder den Bäumen, von denen es heißt: »Was denken Bäume? Sie denken große Schatten auf den Boden.«
Internationale Auswahl
Aus vielen Ländern kommen die Gedichte, aus Deutschland, Ägypten, Korea und Japan, Polen, Taiwan, Chile, Slowenien, Litauen, Spanien, Brasilien, Kanada und der Türkei und und und … Es gibt Lautgedichte, witzigen Nonsens, Nachdenkliches und Freches. Auch Hintersinniges, Skurriles, Geheimnisvolles: »Ein Wal kam und wurde mein Freund. Ich schenkte ihm Mandarinen, und er gab mir dafür Kastanien.«
So phantasievoll, überraschend, abstrus, witzig und intelligent wie die Gedichte sind auch die Illustrationen: ein kopfüber hängender Junge bebildert ein koreanisches Gedicht, das von einer »Reckstangenfamilie« erzählt, ein gemütlich ruhender Löwe aus Südafrika oder fröhlich tanzende Skelette aus Kanada. Von einem Baum fallen tränenförmige Blätter, die erst traurig sind, dass sie den Baum verlassen müssen, aber als sie dann in die Erde aufgenommen werden und zu den Baumwurzeln streben, erkennen sie, dass sie immer noch zum Baum gehören. Ein Kater hat sich ein Buch über seine Augen gelegt und entspannt nach der Lektüre, während vor dem Fenster all die Tiere zu sehen sind, von denen er grade gelesen hat: Vogelspinnen, Kriechtiere, Vampire und räuberische Wölfinnen. Wie immer sind auch dieses Jahr alle künstlerischen Techniken vertreten, Collagen, Drucke, Tuschmalereien, Zeichnungen. Und alle möglichen Bildsprachen, Flächiges ebenso wie Verspieltes, Süßliches und Düsteres, Karikaturistisches und Konstruktivistisches wie bei dem japanischen Lautgedicht – das Einzige, das nicht übersetzt wurde: »gajibigoze dagizubabu« heißt es einfach. Schön ist auch, dass wie immer die Originale in etwas kleinerer Schrift danebenstehen.
Man sieht also: Ein Leben ohne diesen Kinderkalender geht nicht. Es geht einfach nicht, so sehr man sich auch anstrengt.
Und noch eine Warnung am Schluss: Es gibt auch einen Kalender, der ›Arche Kinder Kalender‹ heißt, wie der alte, damals. Aber der ist bei Weitem nicht so schön und so gut und so aufregend und so wunderbar wie dieser hier. Sondern tatsächlich ein wenig langweilig. Also aufgepasst beim Kauf: nur der im Moritz Verlag ist der richtige.
Titelangaben
Internationale Jugendbibliothek (Hrsg): Der Kinder Kalender 2023
Grafiker: Max Bartholl
Frankfurt: Moritz Verlag 2022
60 Seiten, 22 Euro
Ab 6 Jahren
Reinschauen
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