Mal ganz ehrlich: Manchmal ist man schon neugierig, was sich so hinter den Fassaden der Menschen verbirgt, die man nur von außen sieht. Sind sie wirklich das, was sie auf den ersten Blick zu sein scheinen? ANDREA WANNER war voller Vorfreude auf den Blick durchs Schlüsselloch.
Sechzehn Nachbarn eines Mehrfamilienhauses fahren gemeinsam im Aufzug. Und mit ihnen ist die wissbegierige Ich-Erzählerin unterwegs. Wer schon beim ersten Bild genau aufgepasst hat, hat entdeckt, wie sie als letzte noch schnell in den vollbesetzten Lift gelangt. Und da sitzt sie in der Ecke und beobachtet die sechzehn Mitfahrenden: Die alte, dunkelhäutige Frau mit Stock und Handtäschchen in leicht gebeugter Haltung. Neben ihr die Kleine mit rotem Lockenkopf und Brille. Hinter ihr eine schmale, ebenfalls bebrillte Frau, die dem Mädchen beide Hände auf die Schultern legt. Den coolen Typ mit Elvistolle. Die Stewardess mit Lächeln im Gesicht und den Sonnyboy mit blonder Frisur mit Dauergrinsen. Den jungen Mann im Arbeitsoverall mit großer Aktentasche vor dem Körper. Die kränklich wirkende Frau mit roter Schnupfennase und dem rechten Arm in einer Schlinge. Eigentlich alles relativ normal aussehende Menschen. Oder?
Denn jetzt wird’s spannend. Das neugierige Insekt, denn um keine andere als eine Fliege handelt es sich bei der frechen Spionin, folgt den harmlosen Liftfahrenden in ihre Wohnungen. Dort, im Schutz der eigenen vier Wände, erfahren wir wahrlich Ungeheureres über sie.
Der korrekte Herr mit Anzug und Krawatte und dem Schnauzer im Gesicht kann nur daumenlutschend und mit seinem Teddy im Arm einschlafen. Der bullige junge Mann im Overall trägt daheim ein Kleidchen und Tanzschuhe, mit denen er sich zum Takt spanischer Musik mit Cha-Cha-Cha-Schritten bewegt. Und was sich hinter dem Peters Grinsen verbirgt, ist echt schockierend. Wir werfen einen Blick in fremde Wohnungen, sehen Designermöbel und Staffeleien, pingelige Ordnung und kreatives Chaos, Überraschendes und Verstörendes.
Munter reimt Lisa Aisato, was da hinter der Alltagsmaske steckt und was es zu entdecken gibt. Tatsächlich nimmt sie nicht mal sich selber aus, sondern lässt dem Brummer auch in ihr Arbeitszimmer.
Die norwegische Künstlerin und Autorin hat einen unbestechlichen Blick und einen unverwechselbaren, eigenwilligen Stil. Groteskes Überzeichnen gehört ebenso dazu wie Empathie für die Schwächen der Menschen, die in ihren Sondersituationen ebenso verletzlich wie unverwechselbar wirken. Alte und Junge, Dicke und Dünne, Hellhäutige und Dunkelhäutige, Glückliche und weniger Glückliche: Wir kommen ihnen ganz nah, fühlen uns irgendwie ertappt, weil wir den Blick nicht abwenden können und wollen. 16 Menschen, 16 Geheimnisse: spannend und unwiderstehlich.
Titelangaben
Lisa Aisato: Ein Blick durchs Schlüsselloch
Was die Nachbarn so alles verheimlichen
(Snokeboka, 2018). Aus dem Norwegischen von Neele Bösche
Zürich: WooW Books 2022
40 Seiten, 15 Euro
Bilderbuch ab 8 Jahren
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