In seinem neuen Roman ›Treue‹ begibt sich der argentinische Schriftsteller Hernan Diaz auf die Spuren der Wahrheit und der amerikanischen Finanzmärkte des 20. Jahrhunderts. Von BETTINA GUTIÈRREZ
»Wenn also Geld eine Fiktion ist, dann ist Finanzkapital die Fiktion einer Fiktion. Damit handeln die ganzen Verbrecher: mit Fiktionen« behauptet ein italienischer Anarchist und Protagonist von Hernan Diazʹ Roman ›Treue‹. Es ist eine Behauptung, die sich dem Leser während der Lektüre allmählich erschließt und am Ende dieses Romans gar nicht mehr so unwahrscheinlich erscheint. Denn in ›Treue‹ geht es vor allem um die Welt der Wirtschaft, Finanzen und Spekulanten im Amerika des beginnenden 20. Jahrhunderts. Und, wie im wahren Leben, um undurchsichtige Geschäfte, die Turbulenzen rund um das Geld und ihre Handlanger und um die hastigen, plötzlichen Blasen der Börse.
Im Mittelpunkt des Geschehens stehen der New Yorker Finanzmogul Andrew Bevel und seine Ehefrau Mildred. Andrew, ein Nachfahre einer amerikanischen Financierdynastie, heiratet die aus verarmten aristokratischen Verhältnissen stammende Mildred. Sie führen eine distanzierte und bisweilen belanglose Ehe, die Andrew jedoch nicht daran hindert, zu einem der erfolgreichsten und mächtigsten Unternehmer jener Zeit aufzusteigen.
Seine Methoden, an sein Vermögen zu gelangen, erscheinen zweifelhaft und fraglich, weshalb er dafür in der Öffentlichkeit angeprangert wird. Als »Profiteur von Chaos und Aufruhr«, so die landläufige Meinung, vermag er es den höchsten Gewinn aus dem Wirtschaftsboom der Zwanziger Jahre und dem Börsencrash von 1929 zu ziehen. Mit Mildred verbindet ihn in erster Linie die Liebe zur Musik und die gemeinsamen philanthrophischen Aktivitäten, die sich in Konzerten, Lesungen und Vorträgen äußern. Auch wenn er sie in seiner Autobiographie, die ein Kapitel von Treue ausmacht, als kluge, schöne und warmherzige Frau bezeichnet, will sich die Liebe zwischen den beiden anscheinend nicht richtig einstellen. Mildred ist wiederum seit Jahren durch eine Krankheit geschwächt, die sie ihrem Mann verheimlicht. Schließlich muss sie in ein Schweizer Sanatorium eingeliefert werden, wo sie kurze Zeit später an einem Malignom stirbt.
Dies alles erfährt der Leser im zweiten Teil des Buches, das, wie erwähnt, eine Art Autobiographie Andrew Bevels darstellen und seiner Rehabilitierung dienen soll. Denn Bevel beschreibt sich hier selbst als Held, der mit seinen Geschäften einzig und allein das Wachstum der Wirtschaft und die »Gesundheit der Nation« gefördert habe.
Die anderen drei Teile dieses verschachtelten Werks ergänzen dagegen die Handlung, die sich um dieses Paar und die Schilderung der wirtschaftlichen Höhen und Tiefen an der Wall Street rankt. Im ersten Kapitel geht es um einen so genannten Schlüsselroman des New Yorker Reporters Harold Vanner, der Andrew und Mildred Bevel alias Helen und Benjamin Rask in unvorteilhaftem Licht erscheinen lässt. Hier wird Benjamin als eine introvertierte, ungesellige Persönlichkeit geschildert, die sich kalt und skrupellos an anderen bereichert und jegliche finanzielle Schieflagen zu seinen Gunsten ausnutzt. Helen, Mildreds fiktives Gegenstück, ist zwar musisch veranlagt und unterstützt Künstler, doch verliert sie zum Schluss den Verstand. Sie leidet unter Halluzinationen und Schlaflosigkeit und wird Opfer eines medizinischen Experimentes in einem Schweizer Sanatorium. Eine ungewöhnliche Krampftherapie bringt ihr Herz zum Stillstand.
Der dritte und vierte Teil widmet sich fast ausschließlich Mildred Bevel; Ida Partenza, die Tochter eines nach Amerika ausgewanderten italienischen Anarchisten berichtet von ihrer Zeit als Privatsekretärin bei Andrew Bevel. Er hatte sie als Ghostwriterin für seine neue Autobiographie engagiert, die das unvorteilhafte Bild, das Harold Vanner von ihm und seiner Ehefrau gezeichnet hat, zurechtrücken sollte. Zu einer Veröffentlichung kam es jedoch nie, da Bevel einige Zeit später an einem Herzinfarkt stirbt.
Viele Jahrzehnte später macht sich Ida auf die Suche nach der wahren Mildred, durchsucht ihren Nachlass und stößt dort auf eine kluge, emanzipierte und moderne Frau, die nichts mit Harold Vanners und Andrew Bevels Porträt von ihr gemein hat. Eine Tatsache, die durch den vierten Teil, die Tagebucheintragungen Mildreds, untermauert wird. In Wirklichkeit interessierte sie sich für Politik, lenkte mit großem Geschick die Geschäfte ihres Ehemannes und gründete eine Vereinigung für zeitgenössische Komponisten, der auch Arnold Schönberg, Igor Stravinsky, und Anton Webern beitraten.
»Treue geht dem größten amerikanischen Mythos, dem des Kapitals nach (…). Die Welt von ›Treue‹ ist eine von der Anziehungskraft des Reichtums verzerrte Welt. Das sehen wir heute leider auch, in dem Sinne, dass Wahrheit zum Luxusgut geworden ist« erläutert Hernan Diaz in einem Video die Zielsetzung seines Romans. Hier geht es ihm um die Wahrheit der Finanzmärkte, des Kapitals und einer Ehe. Den Leser hat Diaz von der Wahrheit und seinem schriftstellerischen Können überzeugt: eine wunderbare Lektüre, ein fulminanter Roman.
Titelangaben
Hernan Diaz: Treue
Aus dem Englischen von Hannes Meyer
Berlin: Hanser Berlin 2022
416 Seiten, 27 Euro
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