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Scharfsinniger Sprachvirtuose

Menschen | Zum Tod des Georg-Büchner-Preisträgers Hans Magnus Enzensberger

»Was dir durch den Kopf rauscht, ist formlos und nicht zu fassen. Du spinnst wie Arachne, mein Lieber, und von Glück kannst du sagen, wenn es dir wenigstens gelingt, eine Stubenfliege zu fangen«, heißt es im zum 90. Geburtstag des Autors erschienenen Band »Fallobst«. Hans Magnus Enzensbergers Produktivität war bis ins hohe Alter beeindruckend. Von PETER MOHR

Im Band ›Fallobst‹(2019) hat der scharfsinnige Analytiker und begnadete Sprachvirtuosen zeitkritische Reflexionen aneinandergereiht. Das Büchlein hatte nicht nur Esprit, sondern es zeugte auch von einer ausgeprägten Beobachtungsgabe über die Smartphone-Generation: »Früher war es klinisch kranken Menschen vorbehalten, im öffentlichen Raum ihre intimsten Probleme und Obsessionen lauthals preiszugeben. Auch eine neue Gestik ist zu beobachten. Fast ausnahmslos führen die Menschen Geräte mit sich, zu denen sie ein erotisches Verhältnis pflegen. Sie wischen, fummeln, nesteln, wedeln und stöpseln nicht nur an diesen Gegenständen herum, sondern kitzeln, streicheln, frottieren, tätscheln, knuddeln und massieren sie.«

Im Jahr 2014 hatte Hans Magnus Enzensberger rückblickend auf sein Leben und Werk in einem Interview erklärt: »Einiges ist geglückt, anderes nicht. Man nennt es Zufall oder Fortune.« Im Laufe von mehr als 60 Jahren führte sein Weg vom impulsiven, rebellierenden »Bürgerschreck« zu einem der pointiertesten Intellektuellen des Landes und zum vehementen Verteidiger des klassischen Bildungsgutes.

In der Vergangenheit hat Hans Magnus Enzensberger, der am 11. November 1929 als Sohn eines Oberpostdirektors in Kaufbeuren geboren wurde, oft eine starke Affinität zu historischen Stoffen gezeigt: bei den Theaterstücken ›Eine romantische Frau‹ (1990) und ›Diderot und das dunkle Ei‹ (1993), bei der Calderon-Interpretation ›Die Tochter der Luft‹ (1993), beim ein Jahr später erschienenen Band ›Diderots Schatten‹ und bei den Theaterstücken ›Nieder mit Goethe‹ (1996), ›Der Untergang der Titanic‹ (1999) sowie beim großen erzählerisch-dokumentarischen Band ›Hammerstein‹ (2008). In diesem Buch, das den Untertitel ›Eine deutsche Geschichte‹ trägt, beschäftigt sich Enzensberger mit dem rasanten Aufstieg des Berufssoldaten Kurt von Hammerstein, der 1930 als General Chef der Heeresleitung ist und vier Jahre später vom Dienst suspendiert wird, weil er Adolf Hitler die Gefolgschaft versagt hatte.

Enzensbergers Faible für Dichter und Denker vergangener Epochen hatte auch einen handfesten biografischen Hintergrund, denn 1955 hatte er mit einer Arbeit über die Poetik Clemens Brentanos promoviert. Doch die künstlerischen Anfänge des literarischen Multi-Talents waren von ganz anderem Kaliber. 1957 stieß der erste Gedichtband Verteidigung der Wölfe auf ein beachtliches Echo, und Enzensberger gehörte fortan (als eines der jüngsten Mitglieder) zur renommierten Gruppe 47. Deren Gründungsmitglied Alfred Andersch attestierte dem Lyrikband Landessprache (1960), dass es sich dabei um »große politische Gedichte« handelt.

Enzensberger, der bereits im Alter von 34 Jahren mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet wurde, präsentierte sich in seinen frühen Gedichten als vehementer Gegner der Wiederaufrüstung und fand vor allem im linken politischen Lager ein nachhaltiges Echo. 1965 gründete er die politisch-literarische Zeitschrift Kursbuch, die für undogmatische Linke eine neue »publizistische Heimat« bieten sollte.

Auf dem Höhepunkt der Studentenbewegung schrieb Enzensberger: »Die ganze Veranstaltung schmückt sich mit dem Namen Kulturrevolution, aber sie sieht einem Jahrmarkt verdammt ähnlich.« Mit dem Image des »enfant terrible« konnte der skeptische Querdenker Hans Magnus Enzensberger all die Jahre gut leben. Seine Töne sind mit der Zeit versöhnlicher geworden, seine Bissigkeit ist einer altersweisen, leichten Melancholie gewichen. Bezeichnend dafür ist der letzte Satz in seinem Lyrikband Rebus (2009): ›Verzeiht mir, dass ich Glück gehabt habe.‹

Hans Magnus Enzensbergers öffentliche Wirkung im Kulturbetrieb war über Jahrzehnte hinweg immens. Nun ist er im Alter von 93 Jahren in München gestorben. Einer der bedeutendsten Intellektuellen des Landes hat uns verlassen.

| PETER MOHR
| Abbildung: Felix König, Hans Magnus Enzensberger Tübingen November 2013, CC BY 3.0

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