Schuld und Sühne in Bonn

Comic | Jennifer Daniel: Das Gutachten

Die Grafikerin und Illustratorin Jennifer Daniel hat mit ›Das Gutachten‹ eine Graphic Novel vorgelegt, in der die Gesellschaft der 70er Jahre anhand einer Kriminalgeschichte porträtiert wird. Im Zentrum steht Herr Martin, der in der Nacht des 1. Juli 1977, als in Bonn zum Kanzlerfest geladen wurde, in einen Autounfall verwickelt wird, bei dem eine junge Frau und ihr Sohn starben. Von FLORIAN BIRNMEYER

Ein älterer Mann sieht in einen zerbrochenen Spiegel und erblickt sein jüngeres Ebenbild in einer Soldatenuniform.Die Graphic Novel basiert, wie die Leser*innen am Ende erfahren, lose auf einer wahren Geschichte: Zwar will Jennifer Daniel in ›Das Gutachten‹ keine Familiengeschichte erzählen, doch die Fotosammlung ihres Großvaters diente als Vorlage für die Zeichnungen ihres Comics, und die Hauptfigur Herr Martin ähnelt in manchen Punkten dem Opa der Autorin, auch wenn die (Kriminal-)Geschichte des Buches um den Unfall frei erfunden ist.

Worum geht es also …? Herr Martin, der als ehemaliger Soldat unter Hitler mit seinem gerade volljährig gewordenen Sohn in den 70er Jahren so manchen Konflikt austrägt, arbeitet als Fotoassistent an der Bonner Gerichtsmedizin. Als er eines Nachts, eben in der Nacht des Kanzlerfestes, bei dem sich die Prominenz der Stadt aus Politik, Presse und Kultur ein Stelldichein gibt, nach einem Schafkopfspiel betrunken Auto fährt, wird er Teil eines Unfalls, bei dem eine junge Frau namens Miriam zu Tode kommt.

Obwohl es nicht Herr Martin war, der den Tod der Frau verursacht hat, plagen ihn im Nachgang Gewissensbisse, zumal als die Leiche der Frau in der Gerichtsmedizin auftaucht und er diese fotografieren soll. Denn Herr Martin hat nach dem Unfall Fahrerflucht begangen. Erschwerend kommt hinzu, dass ein Kollege mit dem schönen Spitznamen »Diddi« in trunkenem Zustand in Herrn Martins Auto mitfuhr – sich aber angeblich an nichts erinnern kann. Es stellt sich die Frage: Wie soll Herr Martin nun, nachdem der Unfall in sein alltägliches Leben eindrang, handeln?

Was ist ein Menschenleben wert?

Herr Martin entscheidet sich dafür, den Weg der Verantwortung zu gehen, und beginnt, die Hintergründe des Unfalls zu recherchieren und nach dem Verantwortlichen zu suchen. In ›Das Gutachten‹ stellt sich als zentrale Frage, was ein Menschenleben wert ist. Wir fragen uns mit Herrn Martin, was richtiges Handeln ist, wenn man selbst zunächst falsch gehandelt hat, wie man vielleicht aus heutiger Sicht falsches Handeln in der Vergangenheit, das einen immer noch verfolgt, im Nachhinein wieder gut machen kann.

Immer wieder sehen wir, als eine Art Rückblende, die in blassblau gezeichneten Szenen aus der Normandie, in denen Herr Martin als junger Mann beinahe von seinen Kameraden im Kampf zurückgelassen worden wäre, weil er zu schwach und verletzt war. Oder Szenen, in denen Herr Martin 1945 blind auf die alliierten Gegner schießen musste, um seine eigene Haut zu retten – eine Untat, die ihn bis heute in die Träume verfolgt und die ihm sein Sohn vorwirft. In den 70ern, Jahre später, sagt sich Herr Martin, dass er nun die Möglichkeit hat, alles richtig zu machen – und macht sich auf die Suche nach dem Verursacher des Unfalls.

Interessant an ›Das Gutachten‹ ist auch, dass die junge Miriam, eine Studentin, in Kreisen verkehrte, die Aktionen zugunsten der RAF-Terroristen organisierte. Während des Kanzlerfestes wollte Miriam sich an einer dieser Aktionen beteiligen, um die feine Gesellschaft zu stören und zur Befreiung der RAF aufzurufen, indem die Studenten zum Beispiel ein Plakat aufhängen wollten. In der Realität begann, wie man am Ende des Buches erfährt, wenige Wochen nach dem Kanzlerfest in Bonn eine Anschlagsserie der RAF zur Befreiung der Inhaftierten, die als »Deutscher Herbst« bekannt wurde und die Bundesrepublik in eine Krise brachte.

Philosophische Fragen und konkrete Ereignisse

Mir hat die Graphic Novel ›Das Gutachten‹ sehr gut gefallen, eben weil sie Fragen nach Schuld, Sühne, Verantwortung und persönlicher Freiheit verhandelt – philosophische Fragen, die anhand konkreter Ereignisse veranschaulicht werden. Außerdem führt sie das gesellschaftliche Klima der 70er Jahre vor Augen, in dem nicht nur Studierende mit ihren Eltern im Streit lagen, weil diese 1933 bis 1945 mitgelaufen waren, sondern auch RAF-Anhänger*innen auf ehemalige Nazis trafen. Eine durchaus explosive Mischung, in der jeder und jede Einzelne den eigenen Weg suchen und finden musste.

| FLORIAN BIRNMEYER

Titelangaben
Jennifer Daniel: Das Gutachten
Hamburg: Carlsen, 2022
208 Seiten, 25 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Mein Ich ist stärker als ich

Nächster Artikel

Was der Mond mit uns macht

Weitere Artikel der Kategorie »Comic«

Ja, ham‘ wir heut‘ schon Halloween?

Comic | Martin Frei (Text und Zeichnungen): Lanternjack. Zu den Arbeiten des deutschen Comic-Zeichners Martin Frei gehören so unterschiedlich niveauvolle Werke wie die kafkaeske Science-Fiction Story Gregor K im 21. Jahrhundert oder die hauptsächlich von Oberweiten handelnde Superheldenparodie Superbabe. In Lantern Jack hat er die irische Sage von Jack O`Lantern, auf den die Halloween-Kürbisköpfe zurückgehen, ein wenig aufgejazzt. Wohin er damit wollte, ist BORIS KUNZ allerdings nicht ganz klar geworden.

»Watchmen« des Horrors?

Comic | Alan Moore (Text) / Jacen Burrows (Zeichnungen): Providence Bd. 1 und Bd. 2 Mit der Comicreihe »Providence« wandeln Kult-Autor Alan Moore und Zeichner Jacen Burrows auf den Spuren von Horror-Altmeister H.P. Lovecraft. Alleine aufgrund dieser Namen folgt CHRISTIAN NEUBERT den verschlungenen Pfaden nur allzu gern.

Reise zum anderen Ich

Comic | Lina Ehrentraut: Melek + Ich

Zu einer Dimensionsreise der etwas anderen Art lädt Lina Ehrentrauts ›Melek + Ich‹ ein. Der beim Zürcher Verlag Edition Moderne erschienene Comic verquickt Science-Fiction mit einer queeren Lovestory – und verlegt diese großteils in eine Bar. Von CHRISTIAN NEUBERT

Irgendwie geht’s immer weiter

Comic | Portrait: ›MAD‹-Zeichner Tomas Bunk Beim Comicfestival München ist Tomas Bunk vor wenigen Tagen mit einem Preis für sein Lebenswerk ausgezeichnet worden. Der Name dürfte nicht mehr jedem etwas sagen. Bunk ist jedoch ein Künstler, der nach holprigem Start in Deutschland eine beachtliche Karriere hingelegt hat (in USA gilt er heute als einer der letzten großen ›MAD‹-Zeichner). Wie das kam, ist derzeit in einer Ausstellung zu erfahren, die ANDREAS ALT sich angesehen hat.

Ein zurückhaltender Corben

Comic | Edgar Allan Poe / Richard Corben: Geister der Toten Der namhafte amerikanische Comickünstler Richard Corben hat sich erneut der Bearbeitung von Poe-Stoffen zugewandt. 14 Comics erscheinen in Deutschland in einem schönen Sammelband, »Geister der Toten«. ANDREAS ALT hat sich das Werk angesehen.