//

Not

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Not

Was sie nicht länger verbergen können, Anne, ist ihre Ratlosigkeit, denn wer mit offenen Augen durch den Tag gehe, könne das Menetekel nicht übersehen.

Manche Worte haben sich aus der Alltagswelt verabschiedet, die Sprache schaltet auf Schwundstufe.

Tilman rückte ein Stück näher an den Couchtisch und suchte eine schmerzfreie Sitzhaltung einzunehmen.

Dämonische Kräfte?

Mehr, weit mehr, Anne, ihr Tun hat radikal destruktive Konsequenzen, schon dem äußeren Anschein nach wendet der Planet sich gegen den Menschen, du siehst es überall, sei es in den lodernden Flächenbränden oder den lebensfeindlichen Veränderungen des Klimas, der Planet entzieht uns das Aufenthaltsrecht, Mutter Gaia hatte Geduld gehabt und einen langen Atem, nun war es genug, ein Tropfen bringt das Faß zum Überlaufen.

Dieser Tag zwischen den Jahren war alles in allem angenehm, die Temperaturen hielten sich mild, man hätte auf der Terrasse sitzen können.

Farb warf einen Blick hinüber zum Gohliser Schlößchen, das im fahlen Licht der Nachmittagssonne bescheiden glänzte.

Keine Möglichkeit zu fliehen, gar zu entkommen, fragte Anne.

Null, beschied Tilman, der zum Helden ausgerufene Feuerwehrmann steht hilflos vor einem Flammenmeer und kann von Glück reden, wenn rettende Schneisen gesichert bleiben, anderenorts bleiben Rettungsdienste in Schneeverwehungen stecken, keine Chance, gegen entfesselte Naturgewalt kommt der Mensch nicht an.

Sieht aber ganz danach aus, als ob er das noch nicht verstanden hätte, geschweige denn verarbeitet, spottete Farb, seine Ingenieure, auf die er immer noch hofft, berechnen höhere Schutzwälle, rücken der Natur zuleibe mit Witterungstechnologien, wollen Abgase vereisen, doch das Vertrauen in die anhaltende innovative Kraft der Technik ist nicht durch Fakten gestützt, und vollmundig angekündigte Projekte wirken kontraproduktiv.

Künstliche Intelligenz, sagte Tilman, was für ein bösartiger Scherz, und fügte hinzu: Klimaneutralität.

Selbstfahrende Automobile, ergänzte Anne lachend und schenkte Tee nach: Sprache des einundzwanzigsten Jahrhunderts.

Köstlich, sagte Tilman.

Hohl und leer, spottete Farb, Sommerlochthemen, wer erinnere sich noch an die heftig geführte Debatte ums Klonen.

Alle paar Monate wird der Urknall aus den Archiven geholt, sagte Tilman, und die Evolution wird uns wieder aufgetischt.

Farb krümmte sich vor Lachen: Ein gigantischer Furz.

Spaß muß sein, sagte Anne.

Schenkelklopfer, einer wie der andere, sagte Tilman, rückte seinen Sessel näher an den Couchtisch und bemühte sich, eine schmerzfreie Sitzhaltung einzunehmen.

Die Eliten der westlichen Industrienationen entfalten eine überbordende Betriebsamkeit, sagte er, massiv verbrämt mit medialem Gewese, kulturellen Blähungen mit viel Lärm um nichts, einer Auszeichnung hier, einer Preisverleihung dort, mit Flickschusterei allerorten, damit bitte niemand ihre Ratlosigkeit wahrnehmen möge.

[Die Gemeinde Fitzroy Crossing war am Mittwoch bereits von der Außenwelt abgeschnitten, andere Orte sind davon ebenfalls bedroht. Den Notdiensten zufolge wird es vermutlich eine Woche dauern, bis der Ort, in dem 1200 Menschen leben, wieder auf dem Landweg zugänglich ist.]

Und gar nicht daran zu denken, sagte Farb, was geschieht, sofern sensible Infrastruktur ausfällt, nein er rede weniger von globalen Lieferketten, nein weit naheliegender, er rede etwa von der regionalen Versorgung all derjenigen, die auf regelmäßige Einnahme von Medikamenten angewiesen seien, sagte Farb, die Krankenstände in den Kliniken selbst seien hoch, und wie komme man einer Katastrophenlage bei, in der eine Versorgung mit Hubschraubern unmöglich werde, sagte Farb, es sei eine Reihe derartiger Situationen vorstellbar, in der alles Menschenmögliche an seine Grenze stoße, und ob das als Problem erkannt sei und wie sich die politische, mediale und ökonomische Elite die Debatte in einer solchen Notlage vorstelle, in der ein Rette-sich-wer-kann nicht möglich sei und auch das Sankt-Florians-Prinzip nicht greife, und ob diese Notlage nicht bereits eingetreten sei.

Ob Resignation angesagt sei, fragte Anne, und es an der Zeit sei, sich in sein Schicksal zu ergeben.

Psycho, kommentierte Tilman trocken und schüttelte den Kopf.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Abtauchen und abschalten

Nächster Artikel

Ich sehe was, was du nicht siehst …

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Ankommen

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ankommen Er sei nicht angekommen im Leben, behauptet Gramner: Wie meint er das? Ist das ein Problem? Was bedeutet es denn, Tilman, daß jemand ankommt im Leben? Du kommst ja im Leben nicht an wie ein ICE, der in den Bahnhof einläuft, oder? Nein, eher nicht. Gramner hat eben das Gefühl, er müßte ankommen im Leben, Susanne. Das vermißt er. Gut möglich.

Miami

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Miami

Miami, USA, wir waren in Miami, wann war das. Tilman erinnerte sich. Das dürfte drei, auch vier Jahrzehnte her sein, sagte er, Rucksacktouristen, sagte er, die Zeiten waren anders, wir waren zu viert, irrten ziellos vom Flughafen in Richtung Stadt, es wurde Nacht und wir rollten Schlafsäcke auf einem weitläufigen Rasen aus, Gelände noch des Flughafens, weit waren wir nicht gelangt zu Fuß, wir schliefen drei, vier Stunden, bis wir vom grellen Scheinwerfer einer Polizeipatrouille geweckt wurden, freundlich aber bestimmt, dies sei kein Platz zum Übernachten, außerdem lebten hier Schlangen, das sei nicht ungefährlich, und wir sollten zusehen, in die Stadt zu kommen.

Desillusioniert, nicht verbittert

Kurzprosa | Helga Schütz: Die Kirschendiebin Helga Schütz, die Anfang Oktober ihren 80. Geburtstag feierte, hat sich seit Jahr und Tag als poetische Dokumentaristin des ostdeutschen Alltags einen Namen gemacht. Äußerst subtil hat sie in ihren Romanen (angefangen mit ›In Annas Namen‹, 1986) darüber hinaus ihre eigene Biografie eingeflochten. An dieser bewährten Konzeption hat die in Niederschlesien geborene und später in der DDR lebende Autorin auch in ihrem aktuellen Erzählwerk ›Die Kirschendiebin‹ festgehalten. Von PETER MOHR

Der Anwalt der Schwachen

Kurzprosa | Erich Hackl: Dieses Buch gehört meiner Mutter | Drei tränenlose Geschichten Es gibt zwei neue Bücher des Schriftstellers Erich Hackl: ›Dieses Buch gehört meiner Mutter‹ und ›Drei tränenlose Geschichten‹ sind beide im Schweizer Diogenes Verlag veröffentlicht. Von PETER MOHR

Melancholischer Pessimist mit Humor

Menschen | 100. Geburtstag von Wolfgang Hildesheimer Vor 100 Jahren (am 9. Dezember) wurde der Georg-Büchner-Preisträger Wolfgang Hildesheimer geboren. Von PETER MOHR