Das konfliktbeladene Soziotop einer Kleingartenkolonie bietet Schauplatz und Bühne für Frank Rudkoffsky jüngsten Roman. In der Mittnachtstraße prallen Generationen, Kulturen und Lebensanschauungen aufeinander, zerreißen alte Seilschaften und Gewissheiten. Ganz nebenbei entwickelt sich diese spannende Milieustudie zu einem modernen Stuttgart-Roman der gegenwärtigen 20er Jahre. Von INGEBORG JAISER
Die Mittnachtstraße liegt im Stuttgarter Nordbahnhofviertel, einer nicht nur im Winter etwas düsteren Gegend, fernab der feinen Halbhöhenlagen und Shopping Malls, doch inmitten der Clash of Cultures: ein wagemutiger Mix aus geschichtsträchtiger Vergangenheit und subkultureller Aufbruchsstimmung. An diesem Ort hat Frank Rudkoffsky seinen neuen Roman angesiedelt, mit nichts als einer Straßenbezeichnung im Titel, als wäre dies schon richtungsweisender Fingerzeig genug.
Väter und Söhne
Hier ist der Anti-Held Malte gestrandet, ein ausgebrannter, erschöpfter Anfangvierziger, dem allzu viel über den Kopf gewachsen ist – eine kriselnde Ehe, ein aufmüpfiger Teenie-Sohn, eine überteuerte Altbauwohnung im angesagten Stuttgarter Westen und nicht zuletzt sein ausufernder Job als Redakteur des Stadtmagazins Zacke (ein herrliches Geonym, wenn man die örtlichen Gegebenheiten kennt). Das Leben mit all seinen Zumutungen hinterlässt sichtbare Spuren, spätestens seit flirrende Mouches Volantes durchs Blickfeld tanzen. Und Maltes mühsam aufgebotene Selbstbeherrschung bricht vollends zusammen, als sein einst jähzorniger, nun in die Demenz abgleitender Vater Walter einen Selbstmordversuch unternimmt und häusliche Pflege unumgänglich erscheint.
Dermaßen in die Enge getrieben, erscheint Malte die verwahrloste Kleingartenparzelle seines Vaters als rettender Rückzugsort. Auch wenn sich rundherum das spießige Kleinbürgertum eine Gartenzwergidylle mit bierseliger und rauchgeschwängerter Vereinsmeierei zurechtgezimmert hat. Angesichts des nahen Urban-Gardening-Projekts »Stadtacker« wirkt die Schrebergartenkolonie wie dem Untergang geweiht, anachronistisch, unzeitgemäß, von der Überalterung des Vereins gezeichnet. Noch immer hat es Malte seinem Vater nicht verziehen, dass der einst sein geliebtes Stückle dem Familienleben vorgezogen hat. Doch wiederholt sich nicht das Geschehen, werden Verletzungen, Kränkungen, Unvermögen nicht von Generation zu Generation weitergereicht?
Stückle versus Stadtacker
Auch wenn sich die Handlung nur über vier Tage – von Mittwoch bis Samstag – erstreckt, verdichtet sich darin ein ganzes Leben. Mit analytischem Blick legt Rudkoffsky das Dilemma des modernen, emanzipierten Mannes offen, der an einer allumfassenden Erwartungshaltung fast zerbricht und scheitert. Ein nicht unbekanntes Phänomen: ist der zutiefst verunsicherte Journalist Malte nicht ein zeitgenössischer Leidensgenosse des überforderten Verlagslektors Henning aus Juli Zehs Neujahr? Zugleich aufgeheizt durch eine Vielzahl aktueller Gesellschaftsthemen: Corona und Care-Arbeit, Generationenkonflikte und Gentrifizierung, Stuttgart 21 und Social Correctness. Doch während Maltes labile Befindlichkeit zwischen Burn-out und Depression sehr glaubwürdig erscheint, bleibt die Darstellung von Vater Walters Demenzerkrankung eher blass und unscharf. Vielleicht ein brisantes Thema zu viel.
Mittnachtstraße ist der dritte Roman des 1980 in Nordenham geborenen Autors Frank Rudkoffsky, der die Idee zu diesem Buch (und einige prägnante Szenen daraus) seiner jahrelangen Tätigkeit als Redakteur bei einem Stuttgarter Stadtmagazin verdankt. Wie nah sich die Fiktion entlang der Realität bewegt, kann man selbst bei einem literarischen Spaziergang durchs Nordbahnhofviertel nachempfinden. Dann relativiert sich auch die Vorstellung, mit der Titel und Covergestaltung des Romans spielen, denn Hermann von Mittnacht war schlicht der erste Ministerpräsident des Königreichs Württemberg.
Titelangaben
Frank Rudkoffsky: Mittnachtstraße
Berlin, Dresden: Voland & Quist 2022
270 Seiten. 24 Euro
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