Jeanine Cummins‘ Roman American Dirt hat in den USA eine Menge Staub aufgewirbelt. Und das bereits, bevor er überhaupt erschienen war. Das Migrantendrama um eine mexikanische Mutter und ihren achtjährigen Sohns, die vor den Killern eines Drogenkartells in die USA fliehen, musste sich den von einer breiten Front von Künstlern und Intellektuellen mit lateinamerikanischem Background getragenen Vorwurf gefallen lassen, hier eigne sich jemand künstlerisch das Leid von Menschen an, mit denen er selbst als weiße Amerikanerin nichts zu tun habe. Vermarktungsungeschicklichkeiten taten ein Übriges, um die Stimmung in Medien und Netz anzuheizen. Nun ist das Buch auch auf Deutsch erschienen. Und präsentiert sich als solider Pageturner, der freilich nicht ganz klischeefrei ist und – was die deutsche Übersetzung betrifft – auch sprachlich zu wünschen lässt. Von DIETMAR JACOBSEN
Lydia Quixano Pérez‘ Mann Sebastián arbeitet als Reporter in Acapulco. Unerschrocken berichtet er von den mörderischen Umtrieben der mexikanischen Drogen-Syndikate. Während seine Frau einen kleinen Buchladen betreibt, riskiert er mit jedem Artikel nicht nur das eigene Leben. Denn Journalisten, die ihnen zu nahe kommen, landen bei den Kartellen, die über ein in alle gesellschaftlichen Bereiche reichendes Netz an Beziehungen verfügen, in der Regel auf Todeslisten. Dass sich seit geraumer Zeit ein soignierter, feingeistiger – und nicht zuletzt offenbar sich auch für sie als Frau interessierender – Literaturliebhaber regelmäßig in Lydias Laden einfindet, lässt die Buchhändlerin zunächst nicht erkennen, auf wen sie sich da mehr und mehr einzulassen im Begriff ist.
Erst als sie einen Artikel ihres Mannes über den Boss der Jardineros, wie sich das neueste in Acapulco operierende Kartell nennt, liest, wird ihr klar, dass es sich bei ihrem literarisch gebildeten Verehrer just um jenen Javier Crespo Fuentes handelt. Da nutzt es dann auch nichts, dass Lydia und Fuentes ein und dasselbe Lieblingsbuch haben und er ihr sogar die eigenen Gedichte zum Lesen mitbringt. Denn nach dem Erscheinen von Sebastiáns Artikel über sich schickt dieser Mann ein Killerkommando ins Haus der Familie Pérez. Später erst erfährt Lydia, dass sich Fuentes‘ geliebte Tochter Marta, als sie aus dem Artikel die Wahrheit über ihren Vater erfahren musste, in ihrem Internat im fernen Barcelona das Leben nahm. Aber da hat der Albtraum von Mutter und Sohn längst begonnen.
Auf dem Todeszug
Sechzehn Familienangehörige verlieren ihr Leben bei dem brutalen Überfall. Einzig Lydia und der achtjährige Luca entkommen dem Massaker. Aber sie wissen genau: Javiers Leute werden nicht ruhen, bis sie auch Frau und Kind des unliebsamen Reporters in den Tod geschickt haben. Was bleibt, ist die Flucht als einzige Alternative und Denver, wo Lydia einen Verwandten hat, als Ziel. Also schließen sich die beiden den Migranten an, die zu Tausenden aus Lateinamerika Richtung USA strömen und dort auf eine Grenze stoßen, die von Tag zu Tag undurchlässiger wird.
Auf einem Waggondach des berüchtigten Todeszuges »La Bestia« geht es, nachdem Lydia vergeblich versucht hat, Tickets für einen Flug zu erwerben, gemeinsam mit zwei jungen Mädchen aus Honduras, den Geschwistern Rebeca und Soledad, mit denen man sich unterwegs zusammenschließt, gen Norden. Immer darauf bedacht, nicht aufzufallen, um den unterwegs lauernden Gefahren aus dem Weg zu gehen, ist es dennoch ein langer Leidensweg, auf den sich Mutter und Sohn begeben. Fährt der Zug, könnte sich einer der vielen Männer auf dem Dach als ihnen hinterhergeschickter Killer erweisen. Steht man auf offener Strecke oder hält in einem Bahnhof, kann es passieren, dass sie der Polizei oder Angehörigen lokaler Banden in die Hände fallen, die sie ausrauben, töten oder als Drogenkuriere zu missbrauchen suchen. Wie sollen eine Frau und ein Achtjähriger sich schützen vor der überall drohenden Gewalt?
Durch die Wüste
Und trotzdem schafft man es bis Nogales, wo auf die beiden honduranischen Schwestern einer jener sich Cojotes nennenden Männer wartet, die Emigrantengruppen auf geheimen Pfaden und für viel Geld über die mexikanisch-US-amerikanische Grenze schmuggeln. Er nimmt – zu einem Preis, der Lydia nicht nur um ihr eigenes Erspartes bringt, sondern auch um das ihrer ermordeten Mutter – die Mexikanerin und ihren Sohn mit auf die letzten erschöpfenden Kilometer durch die menschenfeindliche Sonora-Wüste.
Dass man sich, je näher man seinem Ziel kommt, umso freier und sicherer fühlt, obwohl sich schließlich herausstellt, dass man sich die ganze Zeit keineswegs außerhalb der Schusslinie des Kartells befand, ist eine Wendung, die sich Jeanine Cummins fast bis zum Schluss aufhebt. Ihr Roman endet allerdings – anders als viele der Emigrantenschicksale, an die die Autorin nach eigener Aussage mit ihrem Buch gemahnen will – mit einem Neuanfang, der wohl gelingen wird.
American Dirt den Vorwurf zu machen, hier kümmere sich eine Autorin um Dinge, die sie nicht selbst erlebt habe, und profitiere damit von dem tausendfachen Leid der Emigranten, geht sicher zu weit. Man sollte Jeanine Cummins abnehmen, was sie in den Anmerkungen ihres Romans beteuert – mit ihrer erfundenen Geschichte all die »unzähligen Geschichten zu ehren, die wir niemals hören werden« und damit »ein Innehalten zu erreichen, dass der Leser vielleicht beginnt, die Menschen als Individuum zu begreifen.«
Denn daran krankt das Verhältnis vieler US-Amerikaner zu den Latino-Emigranten vor allem und ermöglicht populistischen Politikern wie dem derzeitigen Präsidenten der Vereinigten Staaten ihr fragwürdiges Ansehen bei all jenen, von denen sie gewählt werden wollen: dass man die Hilfesuchenden als kriminellen Mob diskriminiert und nicht als Mitmenschen wahrnimmt, die zu unterstützen ein Gebot der Humanität ist.
Die Opfer sind wichtiger als die Täter
Jeanine Cummins‘ Buch beginnt mit einer Gewaltorgie, hält sich dann aber zurück mit allzu expliziten Szenen, um den Tätern nicht mehr Raum einzuräumen, als sie verdienen. Stattdessen bleibt die Autorin über knapp 550 Seiten konsequent bei den Opfern – jenen vor Gewalt und Chaos, Korruption und Polizeiwillkür, Bandenkriegen und Rachefeldzügen Fliehenden, für die die Vereinigten Staaten das Gelobte Land im Norden darstellen. Dass der Weg dorthin mörderisch ist und man die meisten der Migranten, erreichen sie denn überhaupt ihr Ziel, keineswegs freudig willkommen heißt, nehmen die Verzweifelten in Kauf. Denn jedes noch so schwere und entbehrungsreiche Leben als illegaler Einwanderer scheint besser als die zurückliegende Hölle, der man mit knapper Not entkommen ist und die für jeden der Migranten andere Gesichter besaß.
Nein, John Steinbeck ist Jeanine Cummins wirklich nicht, um einen der heftigsten amerikanischen Verrisse zu American Dirt zu zitieren. Aber auch kein »obra de caca«, wie die Autorin und Kritikerin Myriam Gurba mit feiner Anspielung auf Oprah Winfrey, die dem Buch nicht zuletzt durch ihre mediale Macht den Weg in die amerikanischen Bestsellerlisten gebahnt hatte, urteilte. Das Thema, das Cummins‘ Geschichte einer Flucht umkreist, ist brisant und verdient jegliche Aufmerksamkeit. Darüber, wie die Autorin es bearbeitet – Nicht, dass sie es tut! –, darf gestritten werden. Es unausgelesen beiseitelegen werden es sicherlich nur die Wenigsten.
Titelangaben
Jeanine Cummins: American Dirt
Aus dem Englischen von Katharina Naumann
Hamburg: Rowohlt Taschenbuch 2020
556 Seiten. 15.- Euro
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