Wellen kommen und gehen

Kinderbuch | Micaela Chirif: Das Meer

»Das Meer«, meinte Thomas Mann »ist keine Landschaft, es ist das Erlebnis der Ewigkeit«. Vielleich ein bisschen abgehoben für die Besprechung eines Bilderbuchs, aber wer den gleichnamigen Band in Händen hält, versteht, was gemeint ist, denkt ANDREA WANNER.

Die peruanische Autorin Micaela Chirif studierte Philosophie in Lima sowie Kinder- und Jugendliteratur in Barcelona. Auf poetische Weise nähert sie sich dem Meer in zehn Gedichten an, die vom Himmel, dem Oktopus, einem Wal, der Meerjungfrau, Fischen, Sternen, Wolken, einem Fischer, überraschenderweise einem Tiger und dem Fluss, ehe erst das elfte Gedicht wirklich »Das Meer« heißt. Es ist ein Spiel mit Dingen und Lebewesen, deren Leben eng mit dem Ozean verbunden ist, wie das der darin lebenden Tiere. Aber genauso schafft sie staunenswerte Verbindungen zu Wolken und Sternen.

Sie fragt »Welche Form hat das Meer?« und lässt uns einsehen, dass wir darauf keine Antwort wissen. »Ist es rund? Ist es flach? Hat es Gräten?« Es entzieht sich uns, entzieht sich den Beschreibungen, die wir versuchen. Es ist größer, weiter und für uns Menschen schlicht unfassbar.

Mit Armando Fonseca, Amanda Mijangos und Juan Palomino haben sich gleich drei Künstler*innen aus Mexiko-Stadt gemeinsam daran gemacht, die ausdrucksstarken Texte in Bilder umzusetzen. Es dominiert ein zartes, tintiges Blau, das so wenig greifbar scheint, wie Wasser es nun mal ist. Punkte, schwungvolle Linien, die an Schreibübungen eines Schulkindes erinnern, verschwimmende Striche, die dickere und dünnere werden, ahmen die Bewegung von Wellen nach.

Collagenartige Einschübe wie eine Himmelkarte oder Abdrücke von Blättern zeigen, wie sehr die Dinge miteinander in Verbindung stehen. Das Meer in seiner Unendlichkeit entziehet sich, spiegelt sich in anderem, wird in seiner Unfassbarkeit nur im Vergleich zu anderen Dingen irgendwie greifbar.

Der Blick aufs Meer braucht auch den Blick nach oben, auf Wolken und Sterne. Die unendliche Weite der See wird nur klar, wenn man den Tiger zitiert, der das Meer nicht kennt, die Flüsse, die kein anderes Ziel haben.

Klein und unbedeutend tauchen die Menschen auf: ein Fischer, kaum mehr als eine auf wenige Striche reduzierte Gestalt. Ein Mädchen. Und irgendwo zwischen Mensch und Tier die namenlose Meerjungfrau, die keine Buchstaben kennt und keine Sätze bildet, dafür aber singt und den Fischer in seinem Boot – wie durch Magie – anzieht. Fantasievolle Fische schwimmen über die Seiten, mit Mustern und Zeichen bedeckt, die wie Geheimbotschaften wirken. Alles ist in Bewegung, scheint sich zu zerlegen und neu zusammenzusetzen. Ein ewiges Kommen und Gehen, ein Werden und Vergehen. Wie die Wellen.

Wer schon einmal am Meer stand, wird weniger verstehen als vielmehr spüren, was Text und Bild meinen. Ein Bilderbuch, das sprachlos und staunend zurücklässt und dem ein Vers des peruanischen Poeten Martín Adán vorangestellt ist: »Wenn du etwas über mein Leben wissen willst, dann geh und schau aufs Meer.«

| ANDREA WANNER

Titelangaben
Micaela Chirif: Das Meer
(El mar, 2020) Aus dem Spanischen von Jochen Weber
Illustriert von Armando Fonseca, Amanda Mijangos und Juan Palomino
Basel: Baobab 2022
40 Seiten, 18,50 Euro
Bilderbuch ab 5 Jahren
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Kein Ort für Gott

Nächster Artikel

Diplomatie

Weitere Artikel der Kategorie »Kinderbuch«

Offen für Neues

Kinderbuch | Anna Walker: Hilde Hilde ist ein Huhn. Und wer immer sich die Beleidigung »dummes Huhn« ausgedacht hat, kannte Hilde nicht. Von ANDREA WANNER.

On the Road

Kinderbuch | Benjamin Tienti: Unterwegs mit Kaninchen Viel Aufregung wegen eines Kaninchens. Das ist an allem schuld – an den schlimmen wie an den guten Dingen. Von ANDREA WANNER

Die Geschichte von einer verflixt mutigen Gans

Kinderbuch | Nathalie Dargent: Wie sich die Weihnachtsgans vor dem Ofen rettete

Also, wer das mit der »klaren Ansage« einmal so richtig lernen möchte, der ist bei diesem Bilderbuch goldrichtig! Die Hauptrolle spielt eine Gans, genauer gesagt, eine Weihnachtsgans. Jaja, und schon sind sie da, die Assoziationen, aber: alles kommt ganz anders. BARBARA WEGMANN erzählt, wie die Geschichte dieser besonderen Gans beginnt.

So eine Schweinerei!

Kinderbuch | Ian Falconer: Olivia in Venedig Mitten in der schönsten Osterzeit, bei Hasenhochkonjunktur, lässt Ian Falconer eine Horde Schweine los. Ausgerechnet auf Venedig. Die Stadt der Gondeln, der Brücken und Tauben. Im Land von Gelati und Pizza. Wenn Olivia in Venedig ist, dann kann eigentlich nur eine riesengroße Schweinerei herauskommen. Darauf braucht VIOLA STOCKER erstmal ein … Na? Richtig, ein Gelato!

Unsichere Verhältnisse

Kinderbuch | I. Misschaert/R. Verschraagen: Philomena sucht das Glück und das ist näher, als man denkt Mama ist ständig auf Reisen, Papa wechselt Jobs wie andere ihre Hemden, Großtante Meetje lebt nicht mehr ganz im Hier und Jetzt. Dann gibt’s noch Tante Caroline und das ganz große Familiengeheimnis. Wie soll ein Kind das aushalten? Philomena macht es vor. Von MAGALI HEIẞLER