/

Diplomatie

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Diplomatie

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Diplomatie

Tilman schenkte Tee nach.

Farb legte sich ein Stück Pflaumenkuchen auf.

An einem ruhigen, milden Nachmittag neigte sich die Sonne geruhsam dem Horizont entgegen.

Ob das so alles richtig sei, wollte Anne wissen.

Kitsch, sagte Farb, wir leben ein kitschiges Idyll, gänzlich unzeitgemäß, die Welt sei aus den Fugen.

Tilman legte sich ein Stück Pflaumenkuchen auf. Friedlich, sagte er, es existierten Nischen, in die sich friedliche Stimmung zurückziehe, und tat sich einen Löffel Sahne auf.

Ein kitschiges Idyll, wiederholte Farb.

Wir lassen uns über das alte Ägypten aus, gänzlich unaufgeregt, sagte Anne, nichts stört uns, Nachmittag um Nachmittag, Jahrtausende entfernt, angenehme Plaudereien, unverbindlich, bei vortrefflicher Laune.

Was sie damit sagen wolle, fragte Tilman, und ob daran etwas verwerflich sei.

Einzelhaus, Terrasse, gehobenes Wohnviertel, ergänzte sie.

Er verstehe nicht, sagte Tilman.

Farb legte sich ein zweites Stück Pflaumenkuchen auf.

Er, Farb, halte die Thematik für eine Flucht vor den Konflikten der Gegenwart, sagte Farb.

Tilman widersprach. Zeitliche Distanz ermögliche ein abgewogenes, nüchternes Urteil, sagte er, während heißes Blut und Emotionen zu übereiltem Handeln verleiten würden und die Dinge eskalieren ließen.

Ägypten, fragte Anne.

Nimm die Schlacht von Kadesch, einem Ort am Fluß Orontes in Syrien, nicht allzu weit von den Golan-Höhen.

Ist bekannt, sagte Farb, ein Kreuzungspunkt wichtiger Handelswege, 1274 v. Chr., Ramses II. kämpfte gegen die Hethiter.

Er geriet in einen Hinterhalt, ergänzte Tilman, und entkam mit äußerster Not, die Schlacht war verloren. Was tat Ramses, er ließ sich von seinen Steinmetzen in diversen Reliefs als triumphierenden Sieger darstellen, unter anderem im großen Tempel von Abu Simbel – Amun-Re selbst, so ließ er schreiben, habe zu seinen Gunsten in das Geschehen eingegriffen.

Ein propagandistisches Meisterstück, aus heutiger Sicht, sagte Anne, doch zweifellos glaubte er selbst daran, er hatte keinen Begriff von Propaganda.

Schwierig, sagte Farb.

Auch von Manipulation würde man reden oder von fake news, die Namen wechseln, die Tatsachen ändern sich nicht.

Das alte Ägypten besaß keine erkennbar ausgeprägte Medienkultur, spottete Anne, niemand kannte ein Mobiltelefon.

Steinmetze schlugen die Mitteilungen in den Fels, sagte Farb: Wie hätte man ein solches Ereignis heutzutage ausgeschlachtet, mir nichts, dir nichts auf Debatte geschaltet, Presseclub, Hart aber fair, Anne Will, und in den sozialen Medien branden die Emotionen.

Als eine Folge dieser Schlacht gelte der fünfzehn Jahre später abgeschlossene ägyptisch-hethitische Friedensvertrag, erinnerte Tilman, auch dieser wäre ein grandioser Hype, ein potentieller Scoop, der Vertragstext sei Wort für Wort in eine westliche Außenwand des Tempels von Karnak eingemeißelt.

Kümmerlich, spottete Anne.

Grenzenloser medialer Nachholbedarf, sagte Farb und lachte.

Unterzeichnet von dem hethitischen Großkönig Hattusilis III. und dem  ägyptischen Pharao Ramses II., und wer den Text lese, staune nicht schlecht über Details, die sich unsere modernen Kriegsparteien bedenkenlos zu eigen machen können.

Da sei er einmal neugierig, sagte Farb.

Anne schenkte Tee nach.

Köstlich, sagte Tilman und tat sich ein zweites Stück Pflaumenkuchen auf.

Beide Herrscher, sagte er, hätten mit dieser Übereinkunft den zwischen ihnen aktuell bestehenden Frieden bekräftigt, einander als gleichrangige Partner anerkannt und sich wechselseitig militärischen Beistand gegen innere und äußere Bedrohungen zugesichert, Diplomatie ist erfolgversprechend, vorbildlich, nobelpreiswürdig, Ramses II. habe sich in gleicher Weise auch gegenüber dem Thronfolger verpflichtet.

Vor über dreitausend Jahren, sagte Farb, nickte und tat sich ebenfalls ein zweites Stück Pflaumenkuchen auf.

Kaum zu glauben, sagte Anne, diese nüchterne Vernunft werde derzeit schmerzlich vermißt, die Lieferung von Panzern sei kaum zugesagt, da werde nach Flugzeugen verlangt, die Ereignisse in der Ukraine überschlügen einander, die Machthaber seien von Sinnen, die Zeiten seien hysterisch, wie finde man da heraus.

Sie stand auf, ging in die Küche und holte Schlagsahne.

Tilman schmerzte der Rücken, er reckte die Arme und lehnte sich entspannt zurück.

| WOLF SENFF
| Abb: Anonym, Egypt Abou Simbel6, CC BY-SA 3.0

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Wellen kommen und gehen

Nächster Artikel

Eine Reise ins Innere des Körpers

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Eliten

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Eliten

Aber selbstverständlich, sagte Gramner, sie seien nicht von gestern.

Nicht daß sie ahnungslos wären, die Eliten der Moderne, sagte Pirelli, sie seien informiert, einundzwanzigstes Jahrhundert, sagte er, kommuniziert werde digital ohne zeitlichen Verzug, Spitzentechnologie, Hochleistungsgesellschaft, besser geht’s nimmer, das sei ein anderes Thema als hier bei uns, wo gerade einmal die Bahnverbindung quer über den Kontinent gelegt werde, Union Pacific, und der Goldrausch die Berichterstattung in den Gazetten dominiere.

Die Eliten wüßten bestens Bescheid, spottete Crockeye, sie führen uns.

Absolut, sagte London und lachte, die Eliten gäben den Ton an.

Taiping

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Taiping

Ein Aufstand? Und deshalb, sagst du, kommen sie zuhauf über den Ozean? Wie kommst du darauf, Thimbleman?

Sie erzählen es in der Barbary Row, die Welt ist aus den Fugen.

In deinem Alter solltest du dich nicht in zwielichtigen Spelunken herumtreiben. Aber es stimmt. In südlichen Provinzen Chinas tobt ein gewaltiger Aufstand, unvorstellbar, fünfzehn Jahre lang, er wird zwanzig bis dreißig Millionen Menschenleben fordern.

Rausch

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Rausch

Sie wollen das Leben auskosten, spottete Wette, genießen, sagte er, bis zur bitteren Neige auskosten, wie solle das gehen.

Annika blätterte in ihrem Reisemagazin.

Tilman warf einen Blick auf das Gohliser Schlößchen.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Allein der Mensch könne solche Vorsätze fassen, spottete Wette, er suche sein Leben selbst zu gestalten, die anderen Lebewesen wüßten sich in die Vorgaben der Natur zu ordnen.

Wette

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Wette

Wette, sagte Annika, sie habe mit Wette gesprochen, er sei daran interessiert, Doppelkopf zu spielen, was nicht als Absage zu verstehen sei, aber sie möge gern auch Hüttmann fragen.

Schön, sagte Farb und tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Schlagsahne, die Farb auf der Pflaumenschnitte langsam und sorgfältig glattstrich.

Wette, sagte Farb, hatte Wette nicht Psoriasis, eine Zeitlang sogar im Gesicht, die Haut sei ein sensibles Organ.

So etwas grenze dich aus aus dem Alltag, sagte Tilman, du wirst nicht länger als zugehörig empfunden, doch allem Anschein nach sei das besser geworden.

Kosten & Nutzen

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Kosten & Nutzen

Eine der größten Ölpipelines in den USA wurde das Ziel eines Hackerangriffs. Der Betrieb der knapp neuntausend Kilometer langen Pipeline zwischen Texas und New York habe im Mai vorübergehend eingestellt werden müssen, teilte Colonial Pipeline mit, was zu erheblicher Versorgungsknappheit geführt habe, und konnte, wie es heißt, erst nach Zahlung von fünf Millionen Dollar Lösegeld wieder aufgenommen werden.