Besonderer Comic, tosender Applaus

Comic | Gipi: Besondere Momente mit falschem Applaus

Humor ist, wenn man trotzdem lacht, weiß Silvano Landi – ein Stand-Up-Comedian, dessen Mutter im Sterben liegt. Von ihm erzählt der Comic ›Besondere Momente mit falschem Applaus‹ des italienischen Autorenzeichners Gipi, der in deutscher Übersetzung beim Berliner avant-verlag erschien – vielschichtig, ergreifend, mit ständig wechselnder Erzählebene. Von CHRISTIAN NEUBERT

Ein Mann mit Dreitagebart vor einem Mikrofon›Besondere Momente mit falschem Applaus‹ erzählt von Silvano Landi, einem Stand-up-Comedian, der aktuell mit seinem Bühnenprogramm auf Tour ist. Sein Tour-Alltag wird allerdings vom nahenden Tod seiner Mutter überschattet. Täglich besucht er sie im Hospiz, einem Ort, wo manchmal gerade die Ruhe beunruhigt. Vor lauter Ruhe vergisst er hier schon mal, dass er einen Auftritt hat. Sein Manager ruft dann an und drängt zur Eile. Landi muss dann improvisieren. Und was macht ein Provokateur wie er in diesem Fall? Das Naheliegende: Er baut das Sterben der Mutter ins Humor-Programm ein.
Gipi, der zweifellos zu den wichtigsten zeitgenössischen Comic-Künstlern gehört, könnte man es durchaus zutrauen, dass er diese Prämisse ins Zentrum stellt und dabei Grandioses leistet. Dass er ein schwarzhumoriges Bühnenprogramm in die Panelstruktur eines Comics überträgt, mit Landi als ständig wiederkehrendem Talking Head. ›Besondere Momente mit falschem Applaus‹ funktioniert allerdings anders. Anders grandios.

Silvano Landi darf sich hier nämlich kaum hinter der zynischen Maske eines Bühnenkomikers verstecken. Stattdessen lernt man ihn vor allem in der Peripherie seiner Profession kennen. In den Momenten, in denen er mit seiner Frau oder seinem Manager telefoniert. Wenn er im Auto unterwegs ist und dem Radio lauscht oder sich in Tagträume flüchtet. Und wenn er am Sterbebett seiner Mutter sitzt und nicht weiß, was er zum Schweigen noch beitragen kann.

Kennste den?

»Jedenfalls ist da dieser Typ, der ein schwarzes Auto gemietet hat, um seine sterbende Mutter zu besuchen.« »Jedenfalls hat die Frau des Mannes ein Zimmer ganz in der Nähe des Hospizes reserviert, in dem die Mutter im Sterben liegt.« »Jedenfalls ist Simo Häyhä, genannt ›Der weiße Tod‹, der Frau des Mannes vollkommen egal.« »Jedenfalls: Wird gerade dieser Kriegsfilm gedreht. Die Landungsszene in der Normandie.« »Jedenfalls liegt das Kind mit den Füßen zuerst. Dieses Verhalten hat einen Namen: Steißlage.« »Jedenfalls ist es dem Mann wichtig zu betonen, dass ihn die Nachricht, dass er keine Kinder zeugen kann, überhaupt nicht kratzt.« »Jedenfalls sind da diese Kosmonauten, unterwegs von Planet zu Planet. Seit Generationen. Immer schon, könnte man sagen.« »Jedenfalls ist jetzt eine Entscheidung zu treffen: Die Wahrheit zu sagen oder die Hoffnung zu nähren?« »Jedenfalls, sagt das leuchtende Kind, ist alles recht, nur um nicht an Mama zu denken.«

Jedenfalls wirft einen Gipi ins kalte Wasser der verschiedenen Erzählebenen. Sie verschwimmen nach und nach miteinander, bis sie schließlich tief in Silvanos Gefühlswelt blicken lassen. Wasser ist dabei das zentrale Element, das alles zusammenhält und aus dem alles hervorgeht. Oft, gerade am Anfang, bleibt allerdings im Trüben, was real ist, was der Fantasie entspringt, was eine vielleicht verklärte Erinnerung ist oder was in Silvanos Hotel gerade im TV läuft.

Ansichten eines Clowns

Für die mäandernde Story, die ständig von einer Erzählebene zur nächsten und zurück springt, bemüht Gipi eine reiche Palette an Zeichenstilen. Zittrig-skizzenhafte Schwarz-Weiß-Passagen wechseln sich mit mal düsteren, mal strahlend hellen Aquarellzeichnungen ab. Das sieht wunderbar aus und korrespondiert trefflich mit der jeweiligen Stimmung, die der Comic gerade anschlägt.
›Besondere Momente mit falschem Applaus‹ ist eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Sein Spektakel liegt nicht in aberwitziger Schnelligkeit, sondern, im Gegenteil, im Innehalten – trotz der rasanten, ständigen Perspektivwechsel. Am besten, man taucht einfach hinein und lässt sich treiben. Der Comic reißt einen dann schon mit – zaghaft zu Beginn, schließlich mit großer emotionaler Sogwirkung. Versprochen.

| CHRISTIAN NEUBERT

Titelangaben
Gipi: Besondere Momente mit falschem Applaus
Aus dem Italienischen von Myriam Alfano
Berlin: avant-verlag 2022
176 Seiten, 30 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Schlagzeilenträchtiges Leben

Nächster Artikel

Bild-Geschichten aus der Natur

Weitere Artikel der Kategorie »Comic«

Buntes Chaos in Berlin

Live | ComicCon Berlin 2018 Mit rund 15.000 Besuchern ging die ›German ComicCon‹ in Berlin zu Ende. Zwei Tage voller Verwunderung und farbenfrohem Chaos liegen hinter den Comicfans. In den Hallen konnte man internationale Stars, Comic-Zeichner, Workshops, Panels, Fotoshootings und nachgebaute Film-Kulissen bewundern. Natürlich zogen die tollen, selbst gestalteten, Kostüme der Cosplayer die Blicke besonders auf sich. ANNA NOAH schaut über den Tellerrand.

Mit traumtänzerischer Sicherheit

Comic | Bastien Vivès: Polina Mit Polina beweist Bastien Vivès erneut, dass er sein Medium ausgezeichnet beherrscht. Dabei ist der französische Comic-Autor gerade einmal 27 Jahre alt. CHRISTIAN NEUBERT ist von dem vielfach prämierten Zeichner wieder mal begeistert.

Reportageähnliche Zustände

Comic | David Schraven (Text), Vincent Burmeister (Zeichnungen): Kriegszeiten Mit Kriegszeiten legt das Comic-Duo Schraven und Burmeister eine »grafische Reportage über Soldaten, Politiker und Opfer in Afghanistan« vor. BORIS KUNZ musste sich bei der Lektüre zunächst die Frage stellen, ob dabei eigentlich sonderlich viel rumkommt.

Meister des Body-Horrors

Comic | Shintaro Kago: Parataxis Mangas werden bei ›TITEL‹ ja eher selten besprochen. Doch wenn es schon einmal so erschütternde und dystopische Mangas gibt, wie Shintaro Kagos Kurzgeschichten ›Parataxis‹, die nun als vollständige Sammlung in einer Master Edition vorliegen, so verdient das doch die Aufmerksamkeit der Comickritik. PHILIP J. DINGELDEY hat sich das Werk des Meisters des Body-Horrors angesehen.

Eine moderne Odyssee

Comic | Judith Vanistendael: Penelopes zwei Leben

Die belgische Comiczeichnerin und -autorin Judith Vanistendael legt mit ›Penelopes zwei Leben‹ eine Graphic Novel über die moderne Odyssee einer Ärztin zwischen dem syrischen Bürgerkrieg und ihrer Heimat Belgien vor. Darin thematisiert werden Fragen wie: Was macht der Krieg mit einem? Woran kann man sich noch festhalten, wenn man mit extremer Gewalt und Grausamkeit konfrontiert wurde? Wie geht das Leben danach weiter? Ist ein normales Familienleben in der Heimat danach noch möglich? Von FLORIAN BIRNMEYER