Glänzend und durchsichtig wie Glas

Roman | Peter Stamm: In einer dunkelblauen Stunde

Ein gescheitertes Filmprojekt, eine verlorene Jugendliebe und die Geheimnisse des schriftstellerischen Schaffens verwebt Peter Stamm mit luftiger Leichtigkeit zu den Themen seines neuen Romans. In einer dunkelblauen Stunde verschwimmen die klaren Konturen, verschwinden gar ins Nichts, wie es die titelgebenden Zeilen das Gottfried Benn-Gedichts erahnen lassen – »in einer blauen, dunkelblauen Stunde/ und wenn sie ging, weiß keiner, ob sie war«. Von INGEBORG JAISER

Peter Stamm gehört zu den leisen, besonnenen Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Auch die Figuren seiner zahlreichen, zuletzt fast im Jahrestakt erscheinenden Romane und Prosabände führen meist ein unspektakuläres, zurückhaltendes Dasein, zeichnen sich jedoch durch ein reiches Innenleben aus. Und sie verweigern sich fast allesamt einer äußeren Vereinnahmung.

Auch Richard Wechsler – der vermeintliche Protagonist aus In einer dunkelblauen Stunde – ist so ein Verweigerer. Die mäßig erfolgreiche Regisseurin Andrea und der Kameramann Tom planen ein Filmporträt über den Schweizer Schriftsteller. Es soll Richard Wechsler in seiner Wahlheimat Paris und dem Dorf seiner Kindheit zeigen und ihn in Interviewsequenzen über sein Leben, das Schreiben und die Entstehung seines neuen Romanes erzählen lassen. So sieht es zumindest das Eingabedossier für die Filmförderung vor. Doch die Geschehnisse unterlaufen sehr schnell das hochtrabende Konzept.

Während der ersten Drehtage in Paris zeigt Wechsler kein sichtbares Interesse, verhält sich mal höflich distanziert, mal brüsk zurückweisend. Zu den geplanten Dreharbeiten in seinem Heimatdorf taucht er nicht mehr auf, meldet sich auf keine der Mailanfragen. Alle Spuren verlieren sich im Ungewissen. »Wenn Wechsler gestorben wäre,« sinniert Andrea, »das wäre eine unvorhergesehene Wendung.« Von einem Bus überfahren, bei einem Raubüberfall erstochen? Das perfekte Sujet für einen Krimi. Doch nicht so bei Peter Stamm.

Was-wäre-wenn-Geschichten

Unter dem Zeit- und Finanzdruck scheint nicht nur das Filmprojekt, sondern auch die Beziehung zwischen Tom und Andrea (aus deren Ich-Perspektive erzählt wird) zu scheitern. Während Tom gelangweilt die Zeit totschlägt, beginnt Andrea, aktiv zu recherchieren. Dabei stößt sie auf die Pfarrerin Judith, eine Jugendliebe Wechslers, mit der sie sich anfreundet – vielleicht verbunden durch ein gemeinsames Schwärmen? Andrea versucht sich Gespräche mit Wechsler wachzurufen, imaginiert potentielle Begegnungen und träumerische Was-wäre-wenn-Geschichten.

Es steckt ein vages Verlangen, aber auch eine feine Beobachtungsgabe in ihren Erinnerungen: »Er hat etwas Blaues in sich, ich weiß nicht, wie ich es anders ausdrücken soll. Es ist glatt und glänzend und durchsichtig, mal scheint es fest wie Glas, mal wie ein Wassertropfen […] Wenn er nicht aufpasst, sieht man es manchmal in seinen Augen. Aber wenn er auf der Hut ist, sind seine Augen wie Spiegel, in denen er mich nichts als mich selbst sehen lässt.«

Ich ist ein anderer

Spiegelungen und Brechungen gehören, wie in vielen Geschichten Peter Stamms, auch zum zentralen Motiv dieses Romans. Wie in einem Vexierbild überlagern sich Fakten und Fiktion, Außen- und Innensicht, Traum und Wirklichkeit. Wieviel von Richard Wechsler steckt in Peter Stamm – und umgekehrt? Zeigt das Buchcover, gestaltet nach einem Bild der Malerin Anke Doberauer, nicht unverwechselbar den Autor selbst?

Das Jonglieren mit der Realität gewinnt zusätzliche Dimensionen, wenn man weiß, dass der Roman parallel zu einem Projekt der Dokumentarfilmer Georg Isenmann und Arne Kohlweyer über den Schriftsteller Peter Stamm entstanden ist, der kurzerhand den Ball zurückspielte und das Filmteam in sein neues Werk integrierte.

Gescheitertes Projekt

Doch während der Dokumentarfilm Wechselspiel bereits erfolgreich bei den Solothurner Filmtagen und im Schweizer Fernsehen gezeigt wurde, lässt Stamm das Filmprojekt in seinem Roman mit Pauken und Trompeten scheitern: die Fördergelder müssen zurückgezahlt werden, Andreas Ersparnisse schmelzen dahin und sie trennt sich von Tom. Die folgende sentimentale Reise mit Judith ist fast schon eine eigene Geschichte.

Ungewohnt lässig changiert Peter Stamms neuer Roman zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit, gebrochen durch feine Nuancen der ironischen Selbstbespiegelung. So verwandeln sich die rätselhaften Täuschungen zu einem Lesegenuss ganz besonderer Qualität. Gegenüber der lakonischen Nüchternheit der früheren Werke Stamms durchzieht In einer dunkelblauen Stunde eine verspielte Leichtigkeit, ein flüchtiger Hauch, wie ein zarter Duft nach L`Heure Bleue von Guerlain.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Peter Stamm: In einer dunkelblauen Stunde
Frankfurt/M.: S. Fischer 2023
251 Seiten. 24 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Mehr zu Peter Stamm in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Wer die Wahl hat …

Nächster Artikel

Ein großer humanistischer Gelehrter

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Das Ungeheuer von Hannover

Roman | Dirk Kurbjuweit: Haarmann

»In Hannover an der Leine,/ Rote Reihe Nummer 8,/ wohnt der Massenmörder Haarmann,/ der schon manchen umgebracht«, heißt es in einem populären Schauerlied aus den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts. Es bezieht sich auf den bekanntesten Serienmörder Deutschlands: Fritz Haarmann. 1879 in der Stadt geboren, in der er 1923/1924 mindestens 24 Morde beging, verurteilte ihn, nachdem man seiner habhaft geworden war, ein Schwurgericht im Dezember 1924 zum Tode. Das Urteil wurde im April des darauffolgenden Jahres vollstreckt. In der Kunst (Literatur, Film, Bildende Kunst, Musik) lebt Haarmann freilich bis heute weiter. Nun hat der gelernte Journalist Dirk Kurbjuweit einen Roman über den »Werwolf von Hannover« geschrieben. Und es gelingt ihm auf faszinierende Weise, den Mörder Haarmann und die mörderische Zeit, in der er lebte, als zwei Seiten einer Medaille darzustellen. Von DIERMAR JACOBSEN

Karussell der Spekulanten

Krimi | Ross Thomas: Fette Ernte Wie kann es sein, dass im Jahr 2014 ein Roman auf der KrimiZeitBestenliste landet (Platz 2 im Mai und Juni), der im Original vor 39 Jahren erschien und dessen Autor, Ross Thomas, im Dezember 1995 das Zeitliche segnete? Die Antwort fällt nicht schwer: Was die deutschen Leser gut vier Jahrzehnte nach der erstmaligen Übersetzung von Thomas‘ Fette Ernte – im Original The Money Harvest – betiteltem Roman zu lesen bekommen, ist ein völlig anderes Buch als die gerade mal 128 Seiten umfassende Ullstein-Ausgabe von 1975. Und Wunder über Wunder: Der Text hat in all

Jenseits des roten Flusses

Roman | Marcie Rendon: Stadt, Land, Raub

Zu Beginn des nach Am roten Fluss (deutsch im Hamburger Argument Verlag 2017) zweiten Romans von Marcie Rendon um ihre 19-jährige Heldin Renee »Cash« Blackbear ist die am Moorhead State College gelandet. Mehr als für »Bio« oder »Psycho« interessiert sich die intelligente junge Frau, für die der meiste ihr hier begegnende Lehrstoff nur langweilige Wiederholung von bereits Bekanntem darstellt und richtige Freunde sich wohl auch nur schwer unter der College-Klientel finden lassen, allerdings für den Billardsaal auf dem Campus. Um ein bisschen Geld zu verdienen, fährt sie nicht mehr Mähdrescher wie in Rendons Erstling, sondern klemmt sich – inzwischen ist die Zeit der Zuckerrübenernte gekommen – in den Nächten hinter das Steuer eines Rübenlasters. Bis das Verschwinden einer Kommilitonin aus ihrem Psychologie-Kurs Cash erneut unfreiwillig mit einem Verbrechen konfrontiert. Von DIETMAR JACOBSEN

Das Ende der Menschheit erleben

Roman | Hendrik Otremba: Kachelbads Erbe »Ich möchte das Ende der Menschheit erleben. Ich möchte einem Anfang beiwohnen«, wünscht sich der Schriftsteller Shabbatz Krekov in Hendrik Otrembas zweitem Roman Kachelbads Erbe. Die Crux daran: Krekov ist bereits 1956 in Mexico gestorben, und die Romanhandlung ist den 1980er Jahren angesiedelt. Gelesen von PETER MOHR

Sich selbst neu erfinden

Roman | Birgit Birnbacher: Ich an meiner Seite
Die Mehrdeutigkeit von schillernden Inszenierungen und unsteten Lebensentwürfen scheint schon im Titel durch. Doch mehr noch: mit Ich an meiner Seite stellt die österreichische Autorin Birgit Birnbacher das allgegenwärtige Streben nach Selbstoptimierung ironisch infrage. Denn nicht nur Facebook und Instagram verleiten zur künstlichen Überhöhung der eigenen Person. Birnbachers soziologisch angehauchte Milieustudie begibt sich in die Welt der Kleinkriminellen und ihrer Wiedereingliederung. Von INGEBORG JAISER