/

Ein großer humanistischer Gelehrter

Menschen | Am 8. März vor 100 Jahren wurde Walter Jens geboren

»Er ist nicht mehr mein Mann«, hatte seine Frau Inge drei Jahre vor seinem Tod in einem erschütternden ›Stern‹-Interview bekannt. Der große Universalgelehrte Walter Jens litt in seinen letzten Lebensjahren an starker Demenz, war pflegebedürftig und erkannte nicht einmal mehr seine nächsten Angehörigen. »Er ist in einer Welt, zu der ich wenig oder gar keinen Zugang habe«, klagte seine Ehefrau Inge, selbst renommierte Literaturwissenschaftlerin und Biografin. Von PETER MOHR

Der hochbetagte Autor Walter Jens an einem Lesepult»Für mich ist die wichtigste Tugend, sich umfassend zu bilden, nachzudenken und am Ende eines langen Meditationsprozesses ein eigenes und unabhängiges Urteil zu fällen. Aus diesem Grund bin ich ein großer Freund des Lesens«, hatte Walter Jens 2001 in einem Interview erklärt.

Da hatte der Redner, Kritiker und Wissenschaftler Jens längst den begabten Schriftsteller der Nachkriegszeit vergessen lassen. In seinen vielen Funktionen hat er sich immer als »Schwimmer gegen den Strom« des allzu schnelllebigen Zeitgeistes, als Mahner und Bewahrer der demokratischen Grundrechte – kurzum: als radikaler Aufklärer im Sinne Lessings entpuppt.

Walter Jens, der am 8. März 1923 in Hamburg als Sohn eines Bankdirektors geboren wurde, erwarb bereits als 21-jähriger den »Doktorhut« in klassischer Philologie. Anfang der 1960er Jahre wurde der Jubilar auf den damals neu geschaffenen Rhetorik-Lehrstuhl in Tübingen berufen.

Nicht selten handelte er sich aus dem konservativen Lager harsche Kritik ein. Am härtesten traf den humanistischen Aufklärer, dass die ›FAZ‹ – für die er selbst jahrelang Kritiken verfasste – ihn 1985 anlässlich seiner Teilnahme an der Mutlangen-Blockade als »anti-aufklärerisch« bezeichnete.

Schon vor seiner Demenz-Erkrankung hatte sich Jens wegen eines Asthmaleidens etwas aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, doch an seiner Streitlust hat er nichts eingebüßt. Gespenstisch nannte er in der Irak-Diskussion die Vorstellung, dass »eine einzige Macht tun und lassen kann, was sie will dank ihrer ökonomischen und militärischen Stärke.« Während des Golfkriegs 1991 hatte Jens in seinem Haus zwei US-Gefreite vor dem Zugriff der amerikanischen Militärpolizei versteckt.

In den frühen 1950er Jahren galt Walter Jens als einer der »Shooting Stars« der Gruppe 47. 1950 war sein an Kafka orientierter Roman »Nein – die Welt des Angeklagten« von der Kritik wohlwollend aufgenommen worden. Nur ein Jahr später erschien die Erzählung ›Der Blinde‹, Jens‘ gelungenstes Erzählwerk. Darin werden zwei Tage aus dem Leben einer erblindeten Figur erzählt, ihre Verzweiflung und die Schwierigkeiten, dem Leben einen neuen Sinn zu geben.

Es folgten Hörspiele, Dramen, die viel beachteten Bände mit gesammelten Reden (›Ort der Handlung ist Deutschland‹ und ›Kanzel und Katheder‹), die zwei Jahrzehnte lang unter dem Pseudonym »Momos« in der Wochenzeitung ›Die Zeit‹ veröffentlichten TV-Kritiken, Essaybände und einige gemeinsam mit seiner Frau Inge verfasste Bücher über die Dichter-Familie Mann.

Gerühmt wurde Jens vor allem als brillanter Redner: Ob bei SPD-Parteitagen, auf Akademietagungen, beim DGB oder vor wissenschaftlichen Auditorien: Stets hat der ehemalige PEN-Präsident seine Zuhörer in den Bann gezogen. Mit einer gehörigen Portion Understatement bezeichnete sich Jens 2003 in einem ›SPIEGEL‹-Interview als »schmale Begabung, denn ich kann nicht Auto fahren und habe nie einen Computer bedient.««

Geblieben war über viele Jahre das kritische Bewusstsein: »Ich halte in einer Zeit der Spezialisten und Fachidioten viel von der Funktion des gebildeten Laien, des Dilettanten, der Fachleute mit Fragen konfrontiert, die sie sich selbst nicht stellen«, hatte der Ehrenpräsident der Berliner Akademie verkündet. Er hatte gleichermaßen gegen die von Helmut Kohl forcierte Nato-Nachrüstung wie gegen die sogenannten Sozialreformen seines Nachfolgers Gerhard Schröder gewettert.

Walter Jens war ein »Einmischer«, und sein Wort hatte Gewicht. Er war eine Autorität, ohne je autoritär gewesen zu sein. Walter Jens, einer der letzten großen Universalgelehrten, ist am 9. Juni 2013 in Tübingen im Alter von 90 Jahren gestorben.

| PETER MOHR
| Foto: איתן טל Etan Tal, WalterJens1, CC BY 3.0

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Glänzend und durchsichtig wie Glas

Nächster Artikel

Geheimtipps in Buchform

Weitere Artikel der Kategorie »Menschen«

Anything could happen at any time

Menschen | Interview: Daniel Berehulak (Teil I) Daniel Berehulak ist einer der meistdekorierten Foto-Journalisten unserer Zeit. Er berichtet aus über 60 Ländern – über Kriege im Irak und in Afghanistan, den Prozess gegen Saddam Hussein, Kinderarbeit in Indien, das Leben nach dem Tsunami in Japan und aus Manila. FLORIAN STURM sprach mit ihm über die rigorose Anti-Drogen-Politik des philippinischen Präsidenten Rodrigo Duterte.

The Search For A Positive Truth: An Interview With MANOID

Music | Bittles’ Magazine: The music column from the end of the world Every so often a record comes along which makes you stop what you are doing, prick up your ears, and pay rapt attention. One such album is the thoroughly excellent Truth by fast rising Polish producer MANOID. Out now on the always fresh Hafendisko imprint, Truth is a record which only needs a few moments to convince you that you and it are going to be good friends. By JOHN BITTLES

Stillezufuhr in der Picardie

Menschen | Zum 75. Geburtstag des Schriftstellers Peter Handke Peter Handke liebt das Extreme. Mit seinem umfangreichen literarischen Werk und seinen spektakulären öffentlichen Auftritten hat er stets – und dies bewusst – polarisiert. Reichlich Aufsehen erregte er auch durch seine (kaum nachvollziehbare) Nähe zum serbischen Diktator Slobodan Milosevic. Zum seinem 75. Geburtstag am 6. Dezember erschien das opulente Epos ›Die Obstdiebin‹. Von PETER MOHR

Eine jüdische Lebenswelt

Sachbuch | Julius H. Schoeps: Dorothea Veit/Schlegel. Ein Leben zwischen Judentum und Christentum

Brendel Mendelssohn, die später Dorothea Schlegel hieß, zählte zu den bekanntesten Schriftstellerinnen und Literaturkritikerinnen der deutschen Romantik. Aber nicht nur ihr Werk, sondern auch ihr Leben und ihre Verbindung zu Friedrich Schlegel sorgten damals für Aufsehen. Der Historiker, Publizist und Vorsitzende der Moses Mendelssohn Stiftung Julius H. Schoeps hat eine feine, kleine Biographie über diese besondere und bemerkenswerte Persönlichkeit geschrieben. BETTINA GUTIERREZ hat ihn hierzu befragt.

Täglich ins Schreibbüro

Menschen | Zum 25. Todestag der Schriftstellerin Marguerite Duras

»Ich schreibe, um mein Ich ins Buch zu verlagern. Um meine Bedeutung zu verringern«, hatte Marguerite Duras einmal ihren Schreibimpuls zu erklären versucht. Ihre Produktivität war beinahe beängstigend. Seit Anfang der 1940er Jahre hatte sie über 50 Bücher unterschiedlichster »Couleur« veröffentlicht. Bis 1985 war allerdings nur der Roman ›Hiroshima mon amour‹ in deutscher Übersetzung erhältlich, der 1958 von Alain Resnais für die Leinwand inszeniert wurde. Dann löste der Erfolg des Romans ›Der Liebhaber‹ Mitte der 1980er Jahre eine wahre Duras-Lawine auf dem deutschsprachigen Buchmarkt aus. Von PETER MOHR