Ankommen

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ankommen

Jene Ankunft im Leben, Tilman, die Gramner so sehr vermißt – wie soll das vonstatten gehen?

Vorstellbar, das ist sie vielleicht.

Und? Wie sähe das aus?

Ich bin mir nicht sicher, Annika, ehrlich, oder hast du erlebt, daß jemand angekommen wäre im Leben, und woran machst du das fest, und kennst du ein Beispiel?

Dazu fällt mir nichts ein.

Farb tat sich eine Schnitte Pflaumenkuchen auf und ging in die Küche, Schlagsahne zu holen. Soll nicht die Geburt als Ankunft im Leben gelten?

Annika warf einen Blick auf das Gohliser Schlößchen.

Aus hartem Holz sei er geschnitzt, prahle er, sagte Tilman, und biete allen die Stirn, niemand werde ihm auf der Nase herumtanzen, er sei nicht kleinzukriegen, und nicht um Haaresbreite werde er weichen, er werde sich in kein Korsett zwängen lassen, nie im Leben, werde sein Territorium verteidigen wie eine Löwin ihre Jungen, und derlei Phrasen mehr.

Und was soll das?

Er fällt mit der Tür ins Haus. Seht, ruft er, hier bin ich, hallo, ich erfand das Rad, ich machte mir das Feuer zunutze, ich organisierte die Arbeit in Fabriken, ich ersann die Dampfmaschine, die Nukleartechnologie, die digitale Kommunikation, künstliche Intelligenz – und so weiter und so fort, er ist mitreißend, er zieht die Fäden, er macht sich Natur dienstbar, er züchtet diverses Nutztier heran, er gestaltet die Welt nach seinen Zwecken und tituliert sich verwegen als einen homo sapiens.

Nur vom feinsten, sagte Annika, lächelte, griff nach der Teekanne und schenkte Tilman und sich Tee nach.

Farb tat sich einen Löffel Schlagsahne auf.

Tilman rückte näher zum Couchtisch und suchte eine schmerzfreie Sitzhaltung einzunehmen.

Annika liebte das Service mit den zierlichen grünen Drachen über alles. Zwar versicherte Tilman, er habe es von Beijing mitgebracht, wo er einen Halbmarathon auf der Großen Mauer gelaufen war, doch sie traute ihm in diesen Dingen nicht recht, er hinterging sie, er ließ Fünfe gerade sein, sie hatte das Service in einem Fenster in der City gesehen, unverwechselbar, ein kostbares Porzellan aus Meißen, als klassische Ming-Serie ausgestellt, doch was änderte das, ein Geschenk war ein Geschenk, und sie blieb vernarrt in dieses Service.

Nicht genug, sagte Tilman, daß er über die Lebewesen verfügt, nein, sein Gestaltungswille unterwirft sich den gesamten Planeten, den Erdboden, die Meere, die Atmosphäre, alles meins, ruft er, entfacht ein schillerndes Feuerwerk und ergötzt sich daran, er berauscht sich, er triumphiert, alles meins, er findet kein Ende, er kennt weder Maß noch Ziel – ein  ohrenbetäubender Lärm, gleißende Farbenpracht, ein nie dagewesenes Bohei. Seht auf mich!, ruft er: Hier bin ich! Alles gut, Annika, alles gut, doch Ankommen im Leben, das liest sich anders.

Sie lachte.

Und, fragte Tilman.

Ein armseliges Geschöpf, sagte Annika, hilfsbedürftig. Du kannst genau so gut andersherum fragen, und wäre es so, anders herum – das Leben hätte keine Chance, beim Menschen anzukommen.

Tilman nahm einen Keks und trank einen Schluck Tee. Der Keks, sagte er, schmecke fade.

Sie werden die Rezeptur geändert haben, sagte Annika, der Preis für Vanille sei vor einigen Monaten abrupt gestiegen.

Sein triumphalistisches Gehabe, sagte Tilman, übertöne und lähme alle übrigen Impulse, außerhalb seiner selbst nehme er nichts zur Kenntnis. Daß das Leben auf dem Planeten sterbe? Kein Interesse.

Ankommen, Tilman, lese sich definitiv anders.

Auch bevor der Mensch existiert habe, seien Arten ausgestorben, und kontinuierlich seien neue Arten herangewachsen, die Natur habe ihre Kräfte im Gleichgewicht gehalten, doch seitdem es ihn gebe, entstünden keine neuen Arten. Das laufe auf eine Katastrophe hinaus, aber er möchte davon nichts wissen, er triumphiere, er gebe sich seine Events, er feiere ausgelassen Party. Angekommen im Leben, nein, sei er nicht.

| WOLF SENFF

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Höchste Zeit, sagte Anne, höchste Zeit auch für eine feministische Kultur des Gedenkens.

Tilman beugte sich vor.

Unser Blick auf die Gegebenheiten hat zu wenig Struktur, sagte Anne, wir gedenken der Opfer des Terrorismus, der Opfer der Mafia, der Opfer von chemischen Waffen, der Opfer von Flucht und Vertreibung, wir etablieren einen Olympia-Tag, einen Tag des Jazz, einen Europa-Tag, das alles ist wichtig nebst vielem darüber hinaus.

Tilman schenkte Tee nach.

Doch bleiben diese Themen nicht letztlich beliebig?, fragte Anne.

Er stellte die Teekanne zurück auf das schlicht weiße, zierliche Stövchen.

Und? Was fehlt?, fragte er.

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Tilman reichte ihm einen Löffel Schlagsahne, die Farb auf der Pflaumenschnitte langsam und sorgfältig glattstrich.

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