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ChatGPT

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: ChatGPT

Lästig, überaus lästig, die ewig gleichen Versuche, den Mühen der Ebene auszuweichen.

Farb lachte. Das Ei des Kolumbus, sagte er, ein Gordischer Knoten.

Tilman tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Farb stand auf, um Schlagsahne aus der Küche zu holen.

Annika klappte ihr Buch zu und legte es beiseite.

Sie lächelte. ChatGPT sei eine mit Mitteln von high-tech verfeinerte Methode, Plagiate zu erstellen, spottete sie, ein Abschreiben, das es unmöglich mache, auch nur einen der ursprünglichen Autoren zu identifizieren.

So könne man das sehen, sagte Farb, es sei ein zutiefst konservativer Standpunkt, aber deshalb nicht falsch.

Das sei durchaus zutreffend, konstatierte Tilman, das System sammle grenzenlos viele Äußerungen, Bruchstücke, aus denen es sich Texte erstelle, die dem Augenschein nach zusammenhängend seien, eine nette high-tech-Spielerei, wenn man so wolle, inspiriert vom Geist der Spaßgesellschaft.

Die Texte seien nicht ›neu‹, fragte Farb.

Darüber werde man gewiß streiten, und man müsse sprachlich genauestens achtgeben, denn es handle sich eben nicht um neue Texte, sondern um Bruchstücke, einer umfassenden Ablage entnommen, ein gigantisches Puzzle, altbackenes Zeug anders sortiert.

Also nichts Neues?

Nein, nichts Neues, Farb, auch in dieser Hinsicht nicht, sondern blauer Dunst, alles lediglich second hand, alles von gestern, und ChatGPT sei weder in der Lage, die desolaten Brocken aus der Ablage dem Inhalt nach zu verstehen, noch könne es sie etwa anhand eines eigenen roten Fadens gedanklich neu setzen, von Intelligenz könne da nicht die Rede sein, ganz im Gegenteil, und es sei wohl eher berechtigt, nach der Intelligenz derjenigen zu fragen, die diesen hype so aufdringlich laut, so grell und so bunt inszenieren, was soll das.

Eine amüsante Spielerei, ein Kindergarten, sagte Farb, atmete tief, tat sich einen Löffel Schlagsahne auf seine Pflaumenschnitte und verteilte sie gleichmäßig.

Tatsächlich kommen doch sinnvoll erscheinende Texte zustande, wandte Annika ein, und wie man hört, seien in Büros wie Redaktionen Arbeitsplätze gefährdet, man werde sehen.

Falls jemandem einfalle zu fragen, welchen Sinn all das habe und weshalb ein so grandioser Unfug dermaßen bombastisch in Szene gesetzt werde – darauf gäbe es viele Antworten, sagte Tilman.

Er rückte ein Stück näher an den Couchtisch heran und suchte eine schmerzfreie Sitzhaltung einzunehmen.

Farb schenkte Tee ein, Yin Zhen.

Das sei einer der unzähligen Versuche, den Mühen der Ebene auszuweichen, erinnerte er.

Man könnte einen althergebrachten Begriff bemühen, sagte Tilman, den der Dekadenz.

Annika blickte auf.

Erstens, erklärte Tilman, sei zweifelsfrei, daß hier die Technologie überdrehe, sie sei am Ende, sei ausgebrannt und nicht länger in der Lage, einen irgendwie sinnhaltigen Fortschritt zu liefern, und weiter noch, zweitens, trete sie in diesem Fall unverhohlen kontraproduktiv auf, indem sie ihr eigenes Fundament, den Leistungsbegriff, unterminiere, und drittens erschüttere sie die individuellen Biografien dadurch, daß sie in denkbar niederträchtiger Manier – grölend laut, kunterbunt – unmündige Kinder zu gewinnen und für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren suche.

Farb überlegte. Du würdest es begrüßen, fragte er, wenn die Betreiber sozialer Medien verpflichtet wären, Minderjährigen die Teilnahme nur zu gestatten, sofern die Eltern zugestimmt hätten, und würdest diesen auch den Zugriff auf Beiträge und Nachrichten auf dem Konto ihres Kindes ermöglichen?

Damit hätte er kein Problem, sagte Tilman, eine derartige Regelung sei erst vor wenigen Tagen im US-Bundesstaat Utah beschlossen worden, weitergehend noch sei Minderjährigen dort jegliche Nutzung zwischen 22.30 Uhr und 6.30 Uhr  komplett untersagt worden, es sei an der Zeit, spottete er, eine firewall zu errichten, damit die Kinder vor den technologischen Ungeheuern geschützt wären, denn diese würden nicht länger nutzen, sondern unabsehbaren Schaden verursachen.

Nur der Vollständigkeit halber, fügte er hinzu, sei erwähnt, daß ChatGPT, ganzheitlich betrachtet, einen weit verbreiteten Zustand widerspiegele derart, daß sich eine auf Hochglanz polierte Oberfläche präsentiere, und erst vor dem aufmerksamen Blick trete die Täuschung zutage, der Betrug, die gähnende Leere.

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