Ein Hoffnungsschimmer

Jugendbuch | Stéphane Marchetti: 9.603 Kilometer

9.603 Kilometer sind knapp ein Viertel des Äquators. So lange ist die Strecke, die zwei Jungs unterwegs: von Afghanistan nach England. Schlecht ausgerüstet, ständig neuen Gefahren ausgesetzt und unter Einsatz ihres Lebens fliehen sie. Eine Geschichte, die unter die Haut geht, meint ANDREA WANNER.

Adil ist gerade mal zwölf Jahre alt. Es gibt nur kurze Momente einer halbwegs unbeschwerten Kindheit, wenn er mit seinen Freunden und seinem zwei Jahre älteren Cousin spielen kann. Als sein Vater stirbt und sein Onkel der neue Mann seiner Mutter wird, droht der ihm offen: Adil tut, was er ihm befiehlt oder es geht seinen jüngeren Geschwistern schlecht. Was bleibt dem Jungen anderes übrig als sich zu fügen. Er wird auf eine Koranschule geschickt, hört die Hasstiraden auf den Westen und die USA und man verspricht ihm und seiner Familie das Paradies: wenn er sich als Selbstmordattentäter opfert. So findet er sich mit einem Auftrag und einem Sprengstoffgürtel um den schmächtigen Körper im Frühjahr 2015 vor dem Gebäude der Afghan Local Police wieder, um es in die Luft zu jagen. Er wird enttarnt und ihm gelingt es, zu fliehen. Aber in Afghanistan kann er nicht länger bleiben. Der Bruder der Mutter entscheidet: Adil muss nach England und auf der Flucht wird ihn sein Cousin Shafi begleiten.

Ihr beschwerlicher Weg fort von dem fundamentalistischen Talibanregime führt sie über den Iran, die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien und Ungarn bis nach Calais, wo der Ärmelkanal ein nicht zu überwindendes Hindernis an ihr Ziel darzustellen scheint. Die Strapazen und Ängste, Hunger und Kälte, Krankheit, Verzweiflung und Albträume sind nicht vorzustellen. Mit Daoud hat sich ihnen ein weiterer Weggenosse angeschlossen und nur ihr Zusammenhalt und ihre Freundschaft bringen sie so weit. Aber dann scheinen sie endgültig zu scheitern.

Was Stéphane Marchetti erzählt und Cyrille Pomès in düstere und eindringliche Bilder verwandelt in dieser Graphic Novel vergisst man nicht. Das ist nicht irgendeine Geschichte, das sind die Schicksale vieler Kinder, die sich als unbegleitete Minderjährige aufmachen, um in Europa Asyl zu bekommen. Rund 40 Jahre dauern die Kriegs- und Bürgerkriegszustände in Afghanistan an, die Zukunftsaussichten sind quasi nicht vorhanden. Giftiges Senfgelb, verwaschenes Grün, ein Graublau mit viel Schwarz dabei, eine Mischung aus einem hellen Violett und Gelbrosa: das Farbspektrum ist trist, hoffnungslos. Expressives Minenspiel, das von Angst und Verzweiflung, Erschöpfung und Mutlosigkeit bis zu fester Entschlossenheit reicht, ist auf den Gesichtern abzulesen. Die Geschicke der Jungs, die um ihr Leben kämpfen, bewegen. Nirgends sind sie willkommen, sie werden geschlagen, betrogen, ausgeraubt. Und trotzdem bleibt ihnen nichts außer diesem Weg, der ins Ungewisse führt und an dessen Ende hoffentlich ein Neuanfang für die Jugendlichen steht.

| ANDREA WANNER

Titelangaben
Stéphane Marchetti: 9.603 Kilometer
Zwei Kinder auf der Flucht
(9603 kilomètres. L’Odyssée de deux enfants, 2020)
Mit Zeichnungen von Cyrille Pomès
Ludwigsburg: Cross Cult 2023
128 Seiten, 30 Euro
Jugendbuch ab 13 Jahren
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Macher

Nächster Artikel

Freibadsaison

Weitere Artikel der Kategorie »Comic«

Kafka im Comic

Comic | Der Process nach Franz Kafka/Das Schloss nach Franz Kafka Ob ein klassischer, längst verstorbener Dichter in der Popkultur angekommen ist, lässt sich auch daran ablesen, ob er im Comic rezipiert wurde. Wer sich dort einer zunehmenden Beliebtheit erfreut, ist der jüdisch-böhmische Schriftsteller Franz Kafka. Schon seit einiger Zeit veröffentlichen Texter und Zeichner im Knesebeck Verlag Comics über Kafka oder machen aus seinen Werken Comics. So gab es in den letzten Jahren etwa Comics zu den Erzählungen ›In der Strafkolonie‹ und ›Die Verwandlung‹. Doch vor Kurzem machten sich auch Künstler an zwei seiner Romane: ›Der Process‹ und ›Das Schloss‹

Von Menschen und Affen

Comic | W .Lupano, J. Moreau: Der Affe von Hartlepool / P. Bonifay, F. Meddour: John Arthur Livingstone – Herr der Affen Titelbilder mit Affen darauf haben in den 60er Jahren beim Comicverlag DC immer wieder für gut verkaufte Comichefte gesorgt. Auch heute sind unsere nächsten Verwandten im Tierreich als Sujet für Comicstories längst nicht passé: BORIS KUNZ hat sich mit dem ›Affen von Hartlepool‹ (avant) und dem ›Herrn der Affen‹ (Splitter) auseinandergesetzt.

Ausschluss aus dem Leben

Comic | Yi Luo: Running Girl / Aisha Franz: Shit is real Unter den deutschen Comic-Zeichnerinnen mit Migrationshintergrund scheint es derzeit einen Trend zu gehen: Den, Geschichten zu kreieren, die die Probleme des Alltags von Frauen behandeln, die in irgendeiner Weise – sei es soziokulturell oder -ökonomisch – von der Gesellschaft exkludiert werden oder die es sogar präferieren, sich selbst von der Gesellschaft zu distanzieren. Dies kann auf mannigfaltige Weise geschehen, melancholisch, depressiv, verzweifelt, aggressiv oder sarkastisch. PHILIP J. DINGELDEY hat sich zwei dieser Graphic Novels angesehen, nämlich ›Running Girl‹ von Yi Luo und ›Shit is real‹ von Aisha Franz.

Das Brodeln unter der Oberfläche

Comic | Gion Capeder: Superman   Mit ›Superman‹, erschienen in der Edition Moderne, seziert der schweizer Comic-Künstler Gion Capeder den Alltag eines Erfolgssüchtigen mit dem akkuraten Strich der Ligne Claire. Die Abgründe, die er dabei offenlegt, verschließen sich allerdings der Küchenpsychologie. Zum Glück, findet CHRISTIAN NEUBERT

Route 666

Comic | Thomas Ott/Thomas Jane/Tab Murphy: Dark Country Von wegen »auf dem Highway ist die Hölle los«: Der Highway ist die Hölle! Wer in Thomas Otts Dark Country unterwegs ist, begibt sich auf einen düsteren, intensiv verdichteten Road Trip ins Verderben. CHRISTIAN NEUBERT hat auf dem Rücksitz Platz genommen und sich vom Drive des Comics mitnehmen lassen.