Bilanz des Scheiterns

Roman | Michael Stavarič: Das Phantom

»Ich habe tatsächlich auch immer so eine Art fiktiven Thomas Bernhard vor mir gehabt. Am ehesten noch den aus der ›Ursache‹, wo er über Salzburg und den Nationalsozialismus und so weiter schimpft«, hat der 51-jährige Schriftsteller Michael Stavarič über seinen neuen Roman Das Phantom und die Hauptfigur Thom erklärt. Von PETER MOHR

Jener Thom ist ein paradigmatischer Außenseiter, der uns in einem ausschweifenden Monolog über die einstigen Probleme mit seinen Eltern und seiner vergeblichen Suche nach einem Platz in der Gesellschaft teilhaben lässt. Das Ganze geschieht (um es formal auf die Spitze zu treiben) in zehn Einträgen zwischen 10.44 Uhr und 11.10 Uhr am 24. März eines nicht näher bezeichneten Jahres.

Seine Mutter wirft ihm vor, dass sie seinetwegen eine Karriere als Schauspielerin aufgegeben hat. Der akademisch ausgebildete Vater sattelte der Familie wegen beruflich um und brachte die Familie mehr schlecht als recht durch seinen Job als Versicherungsvertreter über die Runden. Thoms Verhalten hat er häufig als unmännlich bezeichnet und ihn zur Strafe durch etliche Männlichkeitstests geschickt. Zur Abhärtung besorgte er seinem Sohn nach der Schule einen Job auf dem Bau.

Die Hauptfigur entwickelt eine Art Trotz gegen gesellschaftliche Konventionen. Thom stiehlt, er lügt, begehrt gegen Familie und Gesellschaft auf, schändet Grabsteine und treibt sich in einem zwielichtigen Schützenverein herum.

Auch mit den Frauen geht alles daneben, lediglich eine Kellnerin namens Gretchen zeigt gewisse Sympathien für ihn. Zu mehr lässt sie es allerdings nicht kommen. Thom ist der geborene Verlierer, dem »immer nur die bissigsten und grindigsten Hunde zulaufen.«

Michael Stavarič, der als Siebenjähriger mit seinen Eltern aus der damaligen Tschechoslowakei nach Österreich kam und später in Wien Bohemistik, Publizistik und Kommunikationswissenschaft studierte, ist ein glühender Verehrer von Thomas Bernhard und Bohumil Hrabal. In Thoms selbstzerfleischendem Monolog klingt der Bernhard-Sound durch fast jede Zeile. Ungehalten und polternd wirken die ellenlangen Wortkaskaden nicht wie geschrieben, sondern wie durch einen Wutanfall herausgeschrien. Stavarič weitet in seiner Bernhard-Adaption die Sätze über zwei und mehr Seiten aus, Wiederholungen und Übertreibungen prägen den kaum zu bändigenden Monolog. Wie mit der Urkraft eines Wasserfalls sprudelt es aus Thom heraus, und der Leser erhält in geradezu intimer Nähe einen Einblick in die wirren Gedanken, hinter denen sich eine fragile Seele verbirgt.

»Es ist eine Bilanz des Scheiterns – zwar nur eines Individuums, doch in letzter Konsequenz auch einer ganzen Gesellschaft«, hat Autor Michael Stavarič völlig zutreffend über den vorliegenden Roman befunden.

Kommen wir Thom wirklich ganz nahe? Können wir all seinen, teilweise völlig ungeordneten Gedanken folgen? Oder bleibt er das kaum greifbare Phantom, das gegen die emotionale Kälte ankämpfen will? Beziehungsunfähig, in Selbstmitleid versunken, einsam und unverstanden.

Das Phantom, dieser tiefbohrende Monolog, erfordert vom Leser ein Höchstmaß an Ausdauer und psychischer Belastbarkeit. Michael Stavarič schreibt Sätze, die so scharf und verletzend sein können wie die Klinge eines Säbels.

»Es ist alles in allem wie ein Totsein, ohne die eigentlichen Vorzüge eines solchen genießen zu dürfen, nämlich das Denken«, resümiert Protagonist Thom beinahe selbsttherapeutisch seine zerrissene Existenz zwischen Lebensekel und Dickköpfigkeit.

| PETER MOHR

Titelangaben
Michael Stavarič: Das Phantom
München: Luchterhand 2023
317 Seiten. 24 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Mehr zu Michael Stavarič in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Im Land der Spione gehen die Uhren anders

Nächster Artikel

Umbrüche

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Ein bisschen Glanz in finsteren Zeiten

Jugendbuch | Lucy Adlington: Das rote Band der Hoffnung

Aus Geschichte werden Geschichten. Das birgt immer ein Risiko in sich, ganz besonders wenn es um das 3. Reich und Konzentrationslager geht, findet ANDREA WANNER

Auf dem Pfad der Ungewissheit

Roman | Julia Deck: Viviane Élisabeth Fauville Der Debütroman Viviane Élisabeth Fauville der französischen Autorin und Journalistin Julia Deck ist zunächst nicht das, was er zu sein scheint – und ist es am Ende doch: ein klassischer Krimi. Allerdings liegt die Spannung nicht auf der Klärung des Mordfalls. Die Täterin ist schließlich von Beginn an bekannt – oder etwa nicht? Ein kriminalistisches Verwirrspiel gelesen von ANNA NISCH

Leise Aufschreie

Roman | Reinhard Kaiser-Mühlecker: Enteignung Als der auf dem elterlichen Bauernhof im niederösterreichischen Eberstalzell aufgewachsene Reinhard Kaiser-Mühlecker vor elf Jahren mit dem schmalen Roman Der lange Gang über die Stationen debütierte, wirkte seine Prosa über das bäuerliche Leben in der Provinz wie ein Relikt aus längst vergangener Zeit. Längst ist der 36-jährige Schriftsteller kein Geheimtipp mehr. Von PETER MOHR

Ein Schauspieler ohne Zuschauer

Roman | Milan Kundera: Das Fest der Bedeutungslosigkeit »Man muss sie lieben, die Bedeutungslosigkeit, man muss lernen, sie zu lieben«, verkündet Ramon, eine der Hauptfiguren in Milan Kunderas neuem Roman ›Das Fest der Bedeutungslosigkeit‹ – das erste größere Erzählwerk des 1929 in Brünn geborenen und seit den 1970er Jahren in Frankreich lebenden Autors seit 2001. Damals hatte sich Kundera in ›Die Unwissenheit‹ noch mit seinem eigenen Schwellendasein zwischen den Kulturen beschäftigt, hatte seine Figuren Irena und Josef mehr aus Neugierde denn aus echtem Heimweg nach langer Zeit von Frankreich nach Prag zurückgeschickt. Von Peter Mohr

Ja, und was treiben sie denn? Einparken üben?

Roman | Franzobel: Was die Männer so treiben, wenn die Frauen im Badezimmer sind Die einen halten Franzobel für einen großen plebejischen Erzähler und attestieren ihm barocke, katholisch grundierte, sprachwitzige Schelmerei und Lust am Tabubruch. Für die andern ist er ein Adabei-Literat, der artifizielle Wortkaskaden produziert, oder schlicht franzdodel. Er selbst bezeichnet sich schon mal als »Voyeur des Menschelnden«. Jetzt hat der österreichische Lyriker, Theater- und Prosaautor einen neuen Roman vorgelegt, WAS DIE MÄNNER SO TREIBEN, WENN DIE FRAUEN IM BAD SIND, und wieder schwelgen Rezensionen in »Tabuisiertem und Verdrängtem«. Von PIEKE BIERMANN