Naturbilder in poetischem Hochglanz

Roman | Richard Powers: Das große Spiel

Richard Powers ist ein universal gebildeter Zeitgenosse, ein belesener Experte auf dem Gebiet der Physik, der virtuellen Welten, der Neurobiologie und der Ökologie. Dass er überdies auch eine Menge von Musik versteht, hat er in seinem Roman Der Klang der Zeit (2004) unter Beweis gestellt, der zu einem Weltbestseller wurde. Der 1957 in Illinois geborene Schriftsteller, der 2019 für seinen Roman Die Wurzeln des Lebens mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet wurde, ist mit seinem breiten Wissensspektrum stets mehr Essayist als »lupenreiner« Romancier. Von PETER MOHR

Powers befand über sich selbst: »Ich wollte immer Wissenschaftler werden, zunächst Ozeanograf, später studierte ich Physik. Nach und nach bekam ich unter den Physikern Platzangst, durch ihren Reduktionismus, der eine so extreme Spezialisierung verlangt, dass jede Entscheidung für eine Sache die Entscheidung gegen Millionen andere Sachen bedeutet. Damals entpuppte sich mein altes Hobby Lesen und Schreiben als Berufung.«

Er erzählt die Lebensläufe seiner vier Hauptfiguren in höchst unterschiedlichen Tonfällen. Powers changiert zwischen tiefer Trauer über die Naturzerstörung und leicht pathetischer Schwärmerei für die farbenprächtige Unterwasserwelt. Alle landen auf der polynesischen Insel Makatea.

Ausgangspunkt für diesen Roman war Powers‘ intensive Auseinandersetzung mit Leben und Werk der bekannten Ozeanographin Sylvia Earle, die offenkundig für eine der Hauptfiguren, die frankokanadische Meeresbiologin Evelyne Beaulieu, Pate stand. Ziemlich offensichtlich ist diese Figur Richard Powers am stärksten ans Herz gewachsen.

Ihr gegenüber steht der umtriebige Todd Keane, Sohn eines Börsianers, der mit seiner Online-Plattform »Playground« (so auch der Originaltitel des Romans) in kurzer Zeit ein gigantisches Vermögen verdient. Mit seinem Jugendfreund Rafi Young, Sohn eines schwarzen Bürgerrechtlers, spielte er früher Schach. Heute streiten die beiden Strategen darum, die Spielregeln des Lebens zu entschlüsseln, auf der Suche zwischen Gesetzmäßigkeiten und Zufällen. Rafi hält nichts von Todds »Playground«-Aktivitäten und dessen Affinität zur künstlichen Intelligenz, er bevorzugt »klassische Bildung« und avanciert zum Bücherwurm.

Die farbloseste der Hauptfiguren ist die Künstlerin Ina Aroita, die am Strand der kleinen Insel den Müll sammelt und daraus Kunstobjekte installiert. Sie lebt mit und für die Mythen Polynesiens. Der Milliardär Todd will schwimmende Städte bauen, und die Inselbewohner über dieses »Seasteading« genannte, verwegene Projekt abstimmen lassen.

Richard Powers geht es in seinem opulenten Erzählwerk um Wetterkapriolen und Umweltkatastrophen, um eine global existierende Zerstörung der Weltmeere, um Kapitalismuskritik, um die Ausbeutung der kleinen Insel (dort wurde lange Phosphat abgebaut), um künstliche Intelligenz (wie schon in einigen Vorgängerwerken), die selbständig Entscheidungen treffen kann und die damit verbundene Angst vor einer Allmacht der KI.

Am Ende des Romans ist die Meeresforscherin Evelyne inzwischen 92 Jahre alt und will noch einmal auf einen Tauchgang gehen, um die geheimnisvollen Sprachcodes der Mantarochen zu entschlüsseln. Sie sieht sich dabei mit der fortschreitenden Zerstörung des Meeres konfrontiert. Powers gelingen dabei beeindruckende, farbenprächtige Schilderungen der Unterwasserwelt. Ihm gelingen Naturbilder in poetischem Hochglanz. Beim Anblick der Rochen heißt es: »Jeder Tanz ist ein Spiel, und jedes Spiel erklärt sich am besten selbst. Denn was tun alle Geschöpfe anderes, als auf dem Erdkreis zu spielen, im Angesicht eines spielenden Gottes?«

Man fühlt sich beinahe erschlagen von der Wucht dieses Romans, vom gigantischen Wissensspektrum, das uns Powers mit auf den Weg gibt. Eine anstrengende, aber dennoch überaus faszinierende Lektüre.

| Peter Mohr

Titelangaben
Richard Powers: Das große Spiel
Aus dem Amerikanischen von Eva Bonné
München: Penguin Verlag 2024
512 Seiten. 26 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Keine Selbstverständlichkeit

Nächster Artikel

Die Brücke zwischen Spielekultur und Gesellschaft

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Monolog einer Sprachlosen

Roman | Emmanuelle Pagano: Die Haarschublade Als sie mit fünfzehn Jahren Pierre, ihr erstes Kind, bekommt, muss sie von der Schule abgehen. Ohnehin hatten sie der Unterricht und die Bücher angeödet, denn sie wollte doch später nur eines: Friseurin werden. Als sie aber mit knapp achtzehn Jahren Titouan, ihren zweiten Sohn, in einer Neujahrsnacht zur Welt bringt, zieht die junge alleinstehende Mutter in eine winzige Bleibe im fünften Stück eines Hauses im »Zigeunerviertel« ihres mittelalterlichen Geburtsorts in Südfrankreich, durch dessen enge Gassen Touristen stolpern. Von WOLFRAM SCHÜTTE

Überrollt von der Macht der Menge

Roman | Juan Gabriel Vásquez: Wenn es an Licht fehlt

Obwohl ihn Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa schon vor einigen Jahren hochgelobt hat und seine Romane schon in 16 Sprachen übersetzt worden sind, ist der kolumbianische Schriftsteller Juan Gabriel Vásquez hierzulande noch weitestgehend unbekannt. In deutscher Übersetzung waren zuvor der Roman Die Reputation (2016) und die Erzählungen Lieder für die Feuersbrunst (2021) erschienen. Sein neuer Roman Wenn es an Licht fehlt verknüpft eine Familiengeschichte mit der Weltpolitik – mit dem China während der Kulturrevolution und den politisch instabilen, von blutigen Kämpfen geprägten Verhältnissen in Kolumbien. Von PETER MOHR

Die Riesenkrake der mörderischen Vergangenheit taucht auf

Roman | Carlos Busqued: Unter dieser furchterregenden Sonne Wahrscheinlich verdanken wir die Bekanntschaft mit diesem verstörenden Roman dem letztjährigen Gastland der Frankfurter Buchmesse. Jedenfalls hat das Außenministerium der Republik Argentinien die Übersetzung von Dagmar Ploetz gefördert. Sie ist, nach dem Tod von Elke Wehr, wohl die »Erste Adresse« auf diesem Gebiet und sie gewonnen zu haben, auch eine Empfehlung des unbekannten argentinischen Autors. Carlos Busqued wurde 1970 im Norden Argentiniens geboren & lebt heute in Buenos Aires. Nicht dort aber, sondern in Barcelona erschien im vergangenen Jahr sein nun auf Deutsch vorliegender erster Roman ›Unter dieser furchterregenden Sonne‹. Ein furchterregendes

Herzschlag im Golde

Roman | Erik Fosnes Hansen: Zum rosa Hahn30

»Auf der Landstraße zwischen Cottbus und Berlin bewegten sich zwei Goldmacher.« So beginnt der 57-jährige norwegische Erfolgsautor Erik Fosnes Hansen seinen neuen Roman. Eine Landstraße zwischen Cottbus und Berlin ist ebenso real wie der Handlungsort Jüterbog. Die geografische Verortung des abenteuerlich anmutenden Geschehens geht zurück auf Fosnes Hansens Aufenthalt als Stipendiat auf dem nahe gelegenen Schloss Wiepersdorf. Von PETER MOHR

Nichts geht rein, nichts kommt raus

Roman | T.C. Boyle: Die Terranauten Vier Männer, vier Frauen, für zwei Jahre eingepfercht auf engstem Raum: Das ist die neue Thematik des amerikanischen Schriftstellers T. C. Boyle und für ihn ein Grund, einen über 600 Seiten dicken Roman zu verfassen. Das reale Vorbild: Biosphäre 2 in Arizona, das nach zwei erfolglosen Versuchen, ein selbst erhaltendes Ökosystem zu erschaffen, als gescheitert betrachtet wurde. Ergeht es Boyles Roman Die Terranauten letzten Endes genauso? Von TANJA LINDAUER